​Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrter Herr Premierminister
Herr Vorsitzender
Sehr geehrte Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft
Meine Damen und Herren

Es ist mir eine Ehre, hier am weltweit renommierten Legal Forum in Sankt Petersburg das Wort an Sie richten zu dürfen. Hier in Sankt Petersburg war es, dass die Schweiz 1816 ihr erstes Konsulat in Russland eröffnet hat. Auch heute noch ist sie mit einem Generalkonsulat, das die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen unseren beiden Ländern fördern soll, vor Ort präsent.

Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, setzt die Schweiz viel daran, eines Tages in die Liste der zehn grössten Investorenländer in Russland aufgenommen zu werden: Die Schweizer Botschaft in Moskau und ihr Swiss Business Hub weibeln in der russischen Hauptstadt für den Wirtschaftsstandort Schweiz. Mehr als 10 000 russische Staatsangehörige in der Schweiz tragen mit ihrem Unternehmergeist zum Wohlstand ihres Gastlandes bei. Die Voraussetzungen zur Weiterentwicklung und Intensivierung der Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern könnten also nicht besser sein.

Aber eigentlich will ich ja in erster Linie über die Ähnlichkeit zwischen dem russischen und dem Schweizer Parlament sprechen. Dank dem Zweikammersystem unserer Parlamente können unsere Bürgerinnen und Bürger ihre Zukunft mitgestalten. Die Mitglieder der russischen Föderationsversammlung und jene der Schweizerischen Bundesversammlung denken, reden und handeln im Namen der Personen, die sie gewählt haben. Sie engagieren sich für das Allgemeinwohl, dieses Gemeingut, das weit mehr ist als die Summe der Partikularinteressen. Dieses Gemeingut, das über die politischen Kräfteverhältnisse hinweggeht, sie überwindet.

Werte Damen und Herren

Mit der Verabschiedung eines Gesetzes nimmt das Parlament keine isolierte Handlung vor: Es unterzeichnet eine «Koproduktion» mit zahlreichen Akteuren. Die Schweizerische Bundesverfassung ist diesbezüglich klar: Die Bundesversammlung ist «unter Vorbehalt der Rechte des Volkes und der Kantone» die oberste Gewalt des Bundes. Die so garantierten Volksrechte stärken die Repräsentationsfunktion des Parlaments, den Grundpfeiler jeder Demokratie.

Ja, geschätzte Damen und Herren, die Bürgerinnen und Bürger der Schweizerischen Eidgenossenschaft sind direkt in das Gesetzgebungsverfahren eingebunden. Für jeden Beschluss verfassungsrechtlicher Natur braucht es zwingend die Zustimmung des Volkes, das sogenannte Volksmehr, sowie die Zustimmung der Mehrheit der Stimmbevölkerung in der Mehrheit der Kantone, das sogenannte Ständemehr. Um Minderheitsanliegen eine Chance zu geben, werden auch Gesetzesentwürfe vors Volk gebracht, wenn dies 50 000 Personen verlangen. Zur Annahme solcher Vorlagen genügt das Volksmehr.

Ausserdem gibt es das Initiativrecht, ein Markenzeichen der Schweizer Demokratie. Ein jeder kann eine Verfassungsänderung vorschlagen, wenn er für sein Anliegen mindestens 100 000 Unterschriften zusammenbringt. Diese Zahl entspricht nur gut einem Prozent der Schweizer Stimmbevölkerung! Bundesrat und Parlament können einen Gegenvorschlag zu einer Initiative erarbeiten, um die Forderung etwas abzuschwächen oder die Umsetzung zu erleichtern.

Die Bundesversammlung greift regelmässig in Gesetzesreformen der Regierung ein. Dies liegt in der Natur der Sache. Aber das Volk kann auch den Kurs des Parlaments korrigieren. Und ich versichere Ihnen: Regierungs- wie auch Parlamentsmitglieder sind vorsichtig, wenn eine Volksabstimmung droht. Das Damoklesschwert, das über dem Gesetzgeber hängt, stellt sicher, dass dieser seine Entscheide mit Vernunft und Augenmass trifft. Das Referendumsverfahren sorgt für die nötige Kontrolle und verbessert die Qualität der Rechtsbestimmungen, was wiederum den Fortbestand der Verfassung und der Gesetze sichert. Gesetze, die vom Volk abgesegnet wurden, werden selten in Frage gestellt. Das Stimmvolk steht hinter ihnen. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass das Referendumsrecht die Stabilität und Solidität der Schweizer Rechtsordnung gewährleistet. Sie sehen also: Die Rechte des Stimmvolks beschneiden bei uns in keiner Weise die Rechte des Parlaments. Ganz im Gegenteil: Sie ergänzen und beleben diese.

Sehr geehrte Damen und Herren

Wenden wir uns nun aber unserem heutigen Thema zu, nämlich der Frage, was angesichts eines universellen Rechts mit unserem Landesrecht geschehen wird. Zweifelsohne stellt die Globalisierung die direkte Demokratie in der Schweiz, die in den letzten Jahrzehnten regelrecht aufblühte, auf den Prüfstand. Dennoch vermochte das Völkerrecht trotz seiner gewaltigen Weiterentwicklung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Legitimität der Volksrechte in der Schweiz nicht grundsätzlich in Frage zu stellen. Dem Bundesparlament ist es bis anhin gelungen, das in der Verfassung verankerte Initiativrecht mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen unseres Landes in Einklang zu bringen.

Nationales wie internationales Recht streben den Schutz des Menschen und dessen Überleben an. Verstösst eine Volksinitiative gegen zwingendes Völkerrecht, wird sie für ungültig erklärt. Die Menschenrechte sind in der Schweiz wie in allen anderen demokratischen Staaten unantastbar. Das Verbot von Todesstrafe, Folter, Zwangsheirat oder systematischer Vorzensur sind unumstössliche und nicht verhandelbare Grundsätze. Diese unveräusserlichen Prinzipien sind sowohl in der Bundesverfassung als auch in den internationalen Menschenrechtsverträgen verankert. In einer Schweiz, die zur Drehscheibe der Migrationsströme geworden ist und deren Gesellschaft somit immer heterogener wird, kommt der Einhaltung des Verfassungsgrundsatzes der Nichtdiskriminierung also grosse Bedeutung zu.

Die Schweizer Bevölkerung hat sich bisher zu dreizehn Volksinitiativen geäussert, die in Konflikt zum Völkerrecht stehen. Vier davon hat sie mit Volks- und Ständemehr angenommen. So haben die Stimmberechtigten unter anderem die lebenslängliche Verwahrung nichttherapierbarer Straftäter, das Verbot des Baus von Minaretten in der Schweiz und die Ausschaffung krimineller Ausländer in ihre Verfassung aufgenommen. Diese neuen Artikel führten zwar zu heftigen Debatten, verstossen nach Auffassung von Parlament und Regierung aber nicht gegen zwingendes Völkerrecht.

Die Entwürfe neuer Verfassungsbestimmungen werden einer formellen, nicht aber einer materiellen Vorprüfung unterzogen. Bevor das Initiativkomitee seine Initiative lanciert, kann es indes – und dies wird ihm sogar ans Herz gelegt – abklären lassen, ob der Initiativtext mit dem Völkerrecht vereinbar ist. Und auch die Bürgerinnen und Bürger, die Initiativbegehren unterschreiben, sollten über allfällige Konflikte mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz informiert werden.

Eine restriktivere Gangart bei den Initiativtexten, um allfällige Völkerrechtsverstösse zu vermeiden, wäre denkbar. Durch die Einführung weiterer Ungültigkeitskriterien würde die Vorprüfung jedoch zu einer eher politischen als rechtlichen Angelegenheit.

Ich persönlich bin für einen pragmatischen Umgang mit unseren Volksrechten. Die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sind sich bewusst, dass diskriminierende Volksinitiativen dem Ziel zuwiderlaufen, alle Teile der Bevölkerung zu integrieren. Unsere Volksrechte haben bis anhin die Rechte der Minderheiten und der schwachen Bevölkerungsgruppen geschützt und so massgeblich zum inneren Frieden und zur Stabilität unseres politischen Systems beigetragen. Vertrauen wir also auch weiterhin dem Schweizer Stimmvolk, denn dieses will auf keinen Fall unsere völkerrechtlichen Verpflichtungen in Frage stellen.

Ja, meine Damen und Herren, das Völkerrecht verdient es, strikte eingehalten zu werden, denn es ist Ausdruck des Willens der Nationen, gemeinsam in Frieden zu leben. Von diesem Recht hängt die Integrität der Völker und Staaten ab. Als Präsident der Vereinigten Bundesversammlung bin ich Russland zutiefst dankbar, dass es sich am Wiener Kongress 1815 für die Souveränität der Schweiz ausgesprochen hat. Heute, da wir in der ehemaligen Zarenstadt an den Ufern der Newa versammelt sind, rufe ich die Russische Föderation auf, ihre Rolle als grosse, transkontinentale Nation voll und ganz wahrzunehmen und die Einhaltung des Völkerrechts zu garantieren.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Jürg Stahl