Am 21. Oktober 1877 nahm das Schweizer Stimmvolk das Bundesgesetz betreffend die Arbeit in den Fabriken an. Erstmals griff der Staat damit in die Vertragsfreiheit ein und erliess auf Bundesebene Richtlinien zum Schutz der Arbeiterinnen und Arbeiter.


1. Historischer Hintergrund

1.1 Modernisierung der Wirtschaft

Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert der industriellen Revolution. Ihren Anfang nahm sie in England, doch nach und nach brachte sie die neuen technischen Errungenschaften nach ganz Europa. In den Schweizer Manufakturen und Fabriken setzte sich die Automatisierung der Arbeit durch und körperliche Kraft war keine Voraussetzung mehr für eine Anstellung. Frauen und Kinder waren auf einmal gefragte und günstige Arbeitskräfte, insbesondere in der Textilindustrie, die in unseren Breitengraden florierte.

Die Arbeitstage waren lang, die Arbeit war anstrengend und der Lohn war bescheiden. In manchen Betrieben arbeiteten Minderjährige bis zu 18 Stunden pro Tag. Es wurden erste Stimmen aus Bildungs- und Familienschutzkreisen laut, die eine Mindestausbildung und Religionsunterricht für die Jugend des Landes forderten. Die Kantone Zürich und Thurgau, die in diesem Bereich eine Vorreiterrolle einnahmen, verabschiedeten bereits 1815 kantonale Gesetze, welche die Arbeitszeit von Minderjährigen auf 14 Stunden pro Tag begrenzten und die Schulpflicht für Kinder einführten, die in den Fabriken arbeiteten.

Doch mit der steigenden Produktivität der Industrie nahm auch das soziale Elend in den Arbeitermilieus zu. Louis René Villermé (1782–1863), Vater der Arbeitsmedizin, veranschaulichte in seinen Abhandlungen die Situation in den europäischen Fabriken. Nachdem er auf einer Reise diverse Textilfabriken in Frankreich, der Schweiz und im heutigen französischen Département Haut-Rhin besucht hatte, veröffentlichte er 1840 einen aufschlussreichen Bericht über den geistigen und körperlichen Gesundheitszustand der Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter:

«Die Arbeit ist für viele nicht nur ungesund und für kleine Kinder viel zu anstrengend, sie wird oftmals auch schlecht entlohnt, was umso schwerwiegender ist, als die betroffenen Arbeiterinnen und Arbeiter keine anderen Einkommensquellen haben und es ihnen fast immer an geordneten Verhältnissen und an Ersparnissen mangelt.» [freie Übersetzung aus dem Französischen]

Louis Villermé, «Tableau de l'état physique et moral des ouvriers employés dans les manufactures de coton, de laine et de soie», 1840, S. 439

Louis Villermé stellte fest, dass es in der Schweiz keinen staatlichen Arbeiterschutz gab. Seinen Beobachtungen zufolge ging es der Arbeiterschaft in Zürich noch am besten, was er der langsameren Entwicklung der Deutschschweizer Fabriken zuschrieb. Er befürchtete jedoch, dass sich mit der zu erwartenden Modernisierung der Textilbranche auch die Situation der Zürcher Arbeiterinnen und Arbeiter verschlechtern wird.

Angesichts des zunehmenden Elends wurde die Debatte über die Situation der Arbeiterinnen und Arbeiter immer breiter geführt. Stimmen aus dem linken Lager sprachen sich für den Schutz der gesamten Arbeiterschaft aus, nicht nur für den Schutz der Frauen und Kinder.

1.2 Politische Reformen

Das 19. Jahrhundert war aber auch das Jahrhundert, in dem der Schweizer Bundesstaat gegründet wurde. Der Bund konnte nun in bestimmten Bereichen Gesetze erlassen.

Die Bundesverfassung vom 12. September 1848 brachte zwar keine wesentlichen Verbesserungen für die Arbeiterinnen und Arbeiter mit sich, legte aber die Grundrechte fest, auf denen das moderne Arbeitsrecht fusst: Wirtschaftsfreiheit, Niederlassungsrecht, Vereinigungsfreiheit. In der Verfassung wurde auch das bis heute geltende politische Modell verankert, wonach die Kantone alle Rechte ausüben, die nicht dem Bund übertragen sind.

1874 wurden die Bundeskompetenzen erweitert. Artikel 34 der neuen Verfassung räumte dem Bund das Recht ein, Vorschriften zu den bereits intensiv diskutierten Arbeitsbedingungen in den Fabriken zu erlassen. Der Bundesrat hielt damals fest: «Es muß ohne Verzug darauf Bedacht genommen werden, die Schädigungen zu verringern, welche für die Tausende, die in den Fabriken arbeiten, aus mangelhaften Einrichtungen, aus der rüksichtslosen [sic] Art und Weise des Betriebs entspringen. [...] Es müssen überhaupt in den befruchtenden, unter Umständen aber auch verheerenden Strom der Fabrikindustrie gewisse Dämme eingesezt [sic] werden, welche, ohne das Gedeihen der Industrie zu hemmen und deren Wohlthaten [sic] zu beeinträchtigen, den Nachtheilen und Gefahren vorbeugen, welche dieser moderne Gewerbsbetrieb in der Schweiz wie überall mit sich führt.»


Die Montagehalle der Maschinenfabrik Escher Wyss in Zürich im Stadtteil Neumühle, 1975, Graphische Sammlung der Zentralbibliothek Zürich.

2. Debatte

In der Sommersession 1876 wurde im Parlament lange über das Gesetz debattiert. Der Tessiner Nationalrat Pedrazzini wies darauf hin, dass in Italien ein 14-Stunden-Tag gilt und Minderjährige beschäftigt werden dürfen. Er befürchtete, dass die Tessiner Seidenindustrie nicht mehr mit der italienischen Konkurrenz mithalten kann.[1]

Die schärfste Kritik am Fabrikgesetz kam – wenig überraschend – aus Wirtschafts- und Arbeitgeberkreisen. Diese fürchteten um die Ertragskraft ihrer Fabriken und verwiesen auf die schlechte Wirtschaftslage, mit der die Schweiz seit Anfang des Jahrzehnts zu kämpfen hatte.

Einige Meinungsäusserungen zeigten jedoch, dass sich die Debatte nicht auf die Kluft zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerschaft reduzieren liess. So richtete die Arbeiterschaft der Uhrenrohwerkfabrik Robert et Cie. in Fontainemelon im Kanton Neuenburg 1875 eine Petition an die Bundesversammlung. Sie befürchtete, diskriminiert zu werden gegenüber jenen Personen, die 18 Stunden pro Tag arbeiten durften. Zudem erachtete sie es als eine Bevormundung der Frauen, diese nicht selbst darüber entscheiden zu lassen, wann sie nach einer Niederkunft die Arbeit wieder aufnehmen wollen.[2]

Das Geschäft ging mehrmals zwischen beiden Kammern hin und her, bis alle Differenzen bereinigt waren. Am 23. März 1877 verabschiedete der Nationalrat den Gesetzestext schliesslich mit 90 zu 15 Stimmen. Einige sahen darin einen fairen Kompromiss, der von wahrer Gerechtigkeit geprägt sei und den berechtigten Forderungen der Arbeiterschaft nachkomme, ohne jedoch den durchaus verständlichen Interessen der Fabrikbesitzer zu schaden.[3] Andere wollten sich mit diesem Ergebnis nicht abfinden und strebten ein Referendum an.

3. Referendum

Die Kampagne gegen das Fabrikgesetz wurde von verschiedenen Lagern unterstützt, darunter die Arbeitgeberkreise, zum Beispiel der Schweizerische Handels- und Industrieverein, aber auch Vertreterinnen und Vertreter der Arbeiterschaft, in deren Augen die Fortschritte des Fabrikgesetztes nur ein Bruchteil dessen waren, was hätte erreicht werden können.[4] Manche sahen in der heterogen zusammengesetzten Gegnerschaft den Beweis dafür, dass die Bundesversammlung einen Kompromiss zwischen sonst unversöhnlichen Lagern gefunden hatte: «Wie Sie sehen, kritisieren sowohl die Arbeitnehmer- als auch die Arbeitgeberkreise die von der Bundesversammlung ausgearbeitete Vorlage. Dies beweist, dass das Gesetz in seiner aktuellen Fassung die beste und einzige Lösung ist, die unter den gegenwärtigen Umständen – d. h. angesichts so gegensätzlicher Interessen – möglich war.» [freie Übersetzung aus dem Französischen]

Journal du Jura, Nr. 114, 16.5.1877

Die Referendumskampagne bot den Kritikern des Bundesstaates eine weitere Gelegenheit, um auf den gefährlichen Präzedenzfall hinzuweisen, den dieses Gesetz in ihren Augen schaffen würde. Im Wallis – ein Kanton, der aufgrund seiner bis dato starken Ausrichtung auf die Landwirtschaft kaum vom Gesetz betroffen war – griff die Gazette du Valais dieses Thema auf: «Obschon in unserem Kanton der landwirtschaftlichen Arbeit der Vorzug vor der industriellen Arbeit gegeben wird, darf uns die Annahme oder Ablehnung dieses Gesetzes nicht gleichgültig sein. Denn mit diesem Gesetz würde die Bürokratie auf Bundesebene weiter aufgebläht und zu den zahlreichen bestehenden eine weitere Klasse von Beamten hinzugefügt, die keinen wirklichen Nutzen hat und dennoch fürstlich zu entlohnen ist, was unsere bereits stark strapazierten Budgets zusätzlich belasten würde. Das Gesetz würde dem Zentralisierungs- und Regulierungswahn, unter dem wir so sehr gelitten haben, weiter Vorschub leisten.»[5] [freie Übersetzung aus dem Französischen]

Gazette du Valais, 15.7.1877

Am 21. Oktober 1877 sprach sich das Stimmvolk mit 181 204 Ja- zu 170 857 Nein-Stimmen für das Gesetz aus. Es wurde dank der Unterstützung der Deutschschweizer Kantone, die den Bundesinstitutionen gegenüber wohlgesinnter waren, angenommen. Abgelehnt wurde die Vorlage von den Westschweizer Kantonen, von Appenzell-Innerrhoden sowie -Ausserrhoden und mit einer sehr knappen Mehrheit auch vom Kanton St. Gallen. Das Gesetz trat am 1. Januar 1878 in Kraft.


Inhalt des Gesetzes

Das Fabrikgesetz verbesserte Hygiene und Sicherheit, schrieb den Fabrikbesitzern den Erlass einer Fabrikordnung vor, regelte die Auszahlung des Lohns an die Arbeiterschaft und legte fest, welche Bussen bei Verspätungen oder mangelhafter Arbeit verhängt werden konnten. Es verpflichtete die Arbeitgeber zur Einhaltung der Vorschriften und machte sie für Unfälle haftbar.

Mit dem Gesetz wurde die Arbeitszeit eines Standardarbeitstages auf elf Stunden begrenzt, die Nacht- und Sonntagsarbeit geregelt und die Arbeit für Kinder unter 14 Jahren verboten. Darüber hinaus war Frauen in den sechs Wochen nach der Niederkunft die Arbeit untersagt. Ausserdem wurden Inspektoren eingesetzt, welche die Einhaltung der Vorschriften kontrollierten.



[1]Le Jura, Band 26, Nr. 48, 16.6.1876

[2]Le Jura, Band 25, Nr. 100, 14.12.1875

[3]Le Confédéré, Zeitschrift des Freiburger Freisinns, Nr. 68, 7.6.1876

[4]Journal du Jura, Nr.114, 16.5.1877

[5]Gazette du Valais, 15.7.1877