Datum: 16.03.1995
Anlass: Staatsbesuch
Redner/Rednerin: Eduardo Frei
Funktion: Staatspräsident Rep. Chile
Saal: Nationalrat
25 Jahre nach dem indischen Staatspräsidenten wurde am 16. März wieder ein Präsident offiziell im Rahmen einer Sitzung im Nationalrat begrüsst. Erneut war es der Vertreter eines weit entfernten Landes, nämlich der chilenische Präsident Eduardo Frei. Die Tatsache, dass Frei Schweizer Vorfahren hatte, mochte bei dieser Einladung auch eine Rolle gespielt
haben. Der Zufall wollte es, dass er von einem Namensvetter – wenngleich mit y geschrieben –, nämlich Nationalratspräsident Claude Frey, im Rat begrüsst wurde. Dieser zeigte sich erfreut, dass Chile, dessen demokratische Tradition ins 19. Jahrhundert zurückreiche, nach der Diktatur Pinochets wieder zur Demokratie zurückgefunden habe. Frei hielt seine Rede auf Spanisch. Er bezeichnete die Schweiz mit ihren vielfältigen Kulturen als europäischen Mikrokosmos, wo das harmonische Zusammenleben zwischen Mehrheiten und Minderheiten dank den direktdemokratischen Einrichtungen und einer auf Konsens und Ausgleich ausgerichteten Politik möglich geworden sei. Chile habe nach der Phase der Konfrontation und Polarisierung zurück zu Stabilität und Konsens gefunden. Die einstigen Gegner hätten sich darauf geeinigt, den Staat nach den Prinzipen der Demokratie, der Wirtschaftsfreiheit, der Rechtsstaatlichkeit und des sozialen Engagements auszurichten. Noch sei indes nicht alles perfekt und es gebe angesichts der Erbschaften aus der Vergangenheit noch Verbesserungspotenzial. Frei sprach damit die Rolle des früheren Diktators Augusto Pinochet an, der nach wie vor den Streitkräften vorstand. Die bisherigen Errungenschaften, die einen breiten Konsens erfordert hätten, wie die friedliche Transition, die Demokratisierung, die internationale Integration und der wirtschaftliche Erfolg des Landes würden aber den eingeschlagenen Weg bestätigen und böten Grund zu Optimismus. Die Ziele seiner Regierung seien die Bekämpfung der Armut, die Modernisierung des Erziehungs- und Sozialwesens und die Verbesserung der Infrastrukturen. (AB 1995 NR 719ff; sda, 16.03.1995)
Die Parlamentarier wohnten der Rede des chilenischen Präsidenten allerdings nicht so andächtig bei, wie es ihre Vorgänger beim Staatsbesuch des indischen Präsidenten getan hatten. Viele Mitglieder der Ratslinken hatten Spruchbänder hervorgeholt, auf denen zu lesen war: «Chili, encore 2000 disparus, nous n'oublions pas». Andere lasen Zeitung oder liessen es offenbar anderweitig an Respekt gegenüber dem Gast ermangeln, was den «Le Matin» zu einer scharfen Rüge veranlasste: «Le Parlement a reçu le président chilien. Mais de quelle manière! Dans le désordre. La dignité n'était en tout cas pas au rendez-vous. Les députés ont donné une piètre image de notre pays et d'eux-mêmes. Certains élus, alémaniques en particulier, ne possèdent aucun savoir-vivre. Les services du protocole seraient bien inspirés de leur apprendre les règles élémentaires de la politesse.» (Le Matin, 17.03.1995, S. 10.) Frei selber wird dieses Gebaren allerdings kaum aufgefallen sein. Gehört hat er aber sicher den kräftigen Applaus, mit dem er verabschiedet wurde.