(sda) Der Staat soll haften, wenn Gewalt- oder Sexualstraftäter rückfällig werden, die vorzeitig entlassen wurden oder Vollzugslockerungen erhielten. Das will der Nationalrat. Er hat es am Freitag abgelehnt, einen entsprechenden Vorstoss abzuschreiben.

Mit 101 zu 87 Stimmen bei einer Enthaltung beschloss die grosse Kammer, am Projekt festzuhalten. Auslöser für die Gesetzesarbeiten waren Gewalttaten wie die Tötung der 19-jährigen Marie im Kanton Waadt oder des Au-Pairs Lucie im Aargau.

Die Rechtskommission beider Räte nahmen eine parlamentarische Initiative der ehemaligen SVP-Nationalrätin und heutigen Zürcher Regierungsrätin Natalie Rickli an, die eine Staatshaftung forderte. Die Nationalratskommission arbeitete einen Gesetzesentwurf aus und schickte diesen in die Vernehmlassung. Der Entwurf stiess aber auf breite Ablehnung. Die Kommission beschloss deshalb, das Projekt nicht weiter zu verfolgen.

Schon vorher Zweifel

Dies hatte sie schon einmal beantragt, allerdings auch damals erfolglos. Im Zuge der Arbeiten am Gesetzesentwurf war sie zur Überzeugung gelangt, dass eine derartige Haftung das System der stufenweisen Wiedereingliederung infrage stellen würde.

Im Nationalrat sah die Mehrheit das aber anders. Sie folgte der Minderheit der Kommission, die argumentierte, der Staat sei moralisch verantwortlich. Wenn Behörden und Richter schon entschieden, dass ein Täter frühzeitig entlassen werden könne, dann müssten sie auch die Verantwortung dafür übernehmen.

Nur bei unerlaubter Handlung

Heute haften der Bund oder die Kantone in der Regel für Schäden, die Staatsangestellte in Ausübung ihrer dienstlichen Tätigkeit verursacht haben. Voraussetzung ist, dass eine unerlaubte Handlung wie die Verletzung einer Amtspflicht dazu geführt hat. Die Lockerung des Strafvollzugs oder eine bedingte Entlassung sind gemäss Bundesgericht jedoch keine unerlaubten Handlungen, nur weil sie sich nachträglich als falsch herausstellen.

Das soll geändert werden. Die Rechtskommission hat eine Staatshaftung vorgeschlagen, die unabhängig von einem Verschulden und einer unerlaubten Handlung greift. Zum Tragen kommen soll die Bestimmung bei schweren und gefährlichen Straftaten, die im Rahmen einer Vollzugsöffnung begangen werden.

Kantone dagegen

In der Vernehmlassung stellten sich alle teilnehmenden 25 Kantone gegen die Vorlage. Auch die FDP, die GLP und die SP lehnten den Gesetzesentwurf ab.

Aus Sicht der Gegnerinnen und Gegner könnte die Staatshaftung kontraproduktiv wirken: Es sei damit zu rechnen, dass künftig nur noch sehr wenig Vollzugsöffnungen bewilligt würden, argumentieren sie. Täter würden damit unvorbereitet aus der Haft entlassen, was das Rückfallrisiko erhöhe. Die Vernehmlassungsteilnehmer führten zahlreiche weitere Einwände ins Feld. Manche zogen die Verfassungsmässigkeit in Zweifel.

Bei einer weiteren parlamentarischen Initiative von Natalie Rickli ist der Nationalrat seiner Kommission gefolgt und hat beschlossen, die Frist zur Ausarbeitung eines Erlassentwurfs zu verlängern. Dabei geht es um die Verwahrung bei rückfälligen Tätern. Der Bundesrat wird voraussichtlich noch in diesem Jahr Anpassungen des Strafgesetzbuchs in die Vernehmlassung schicken. Diese will der Nationalrat abwarten.