(sda) Der Ständerat will keine zusätzlichen Klima-Massnahmen aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von Anfang April. Er hat eine entsprechende Erklärung angenommen. Das Gericht müsse die demokratischen Entscheidungsprozesse achten, argumentiert die kleine Kammer. Was es verlange, sei bereits erfüllt.

Der Ständerat hiess die Erklärung am Mittwoch mit 31 zu 11 Stimmen bei zwei Enthaltungen gut. Damit folgte er dem Antrag der Mehrheit seiner Kommission für Rechtsfragen (RK-S). Über die gleiche Erklärung wird in einer Woche auch der Nationalrat zu befinden haben.

Die kleine Kammer fällte ihren Entscheid gegen den Willen einer linken Minderheit - Carlo Sommaruga (SP/GE), Mathilde Crevoisier Crelier (SP/JU) und Céline Vara (Grüne/NE) hatten in der RK-S ein Nein beantragt. Der dritte Sozialdemokrat, Kommissionspräsident Daniel Jositsch (SP/ZH), stimmte dagegen mit der Mehrheit.

"Grenzen überstrapaziert"

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg hatte Anfang April auf eine Beschwerde des Vereins Klimaseniorinnen hin eine Verletzung der Menschenrechtskonvention durch die Schweiz festgestellt. Sie sei ihren Aufgaben beim Klimaschutz nicht nachgekommen. Der Staat müsse Einzelpersonen vor den Folgen des Klimawandels für Leben, Gesundheit und Lebensqualität schützen.

Der Bundesrat soll nun nach dem Willen des Ständerats den Europarat darüber informieren, dass die Schweiz schon sehr viel unternehme für das Erreichen der Klimaziele. Sie erfülle die menschenrechtlichen Anforderungen bereits.

Die Erklärung des Ständerats trägt den Titel "Effektiver Grundrechtsschutz durch internationale Gerichte statt gerichtlicher Aktivismus". Der EGMR habe die Grenzen der zulässigen Rechtsfortentwicklung überstrapaziert, heisst es darin.

"Zum Gesetzgeber aufgespielt"

Vor seinem Entscheid führte der Ständerat eine intensive Debatte. Jositsch verwies namens der Kommission auf die Gewaltenteilung. Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Strassburger Gerichtshofs sei überragend, sagte er. Doch die Idee der Konvention sei nicht, dass der Gerichtshof diese in Eigenregie weiterentwickeln dürfe. "Es ist nicht Aufgabe eines Gerichts, den Gesetzgeber zu übersteuern."

Jositsch wies den Vorwurf zurück, die Rechtskommission wolle das Urteil ignorieren. Stattdessen sei sie der Ansicht, was dieses verlange, sei bereits erfüllt.

Das Urteil basiere auf veralteten Grundlagen, stiess Beat Rieder (Mitte/VS) ins gleiche Horn. Es berücksichtige die neuesten Entwicklungen in der Schweizer Klima-Gesetzgebung nicht.

Der Gerichtshof habe sich zum moralischen Gesetzgeber aufgespielt, sagte Pirmin Schwander (SVP/SZ). Daher müsse der Ständerat als Teil der Legislative Klartext sprechen.

Auch Andrea Caroni (FDP/AR) trat für die Erklärung ein. Die Vertragsstaaten der Menschenrechtskonvention hätten in der Vergangenheit die Einführung eines allgemeinen Rechts auf Umweltschutz abgelehnt, kritisierte er.

Verweis auf Trump

Carlo Sommaruga (SP/GE) interpretierte die Gewaltenteilung anders als Jositsch. Es sei nicht Aufgabe der Politik, der Judikative vorzuschreiben, was sie zu tun habe. Nicht genehme Urteile als Kompetenzüberschreitung der Justiz anzusehen, sei, was autoritäre Staaten und Politiker wie Ex-US-Präsident Donald Trump täten. "Die Erklärung hätte mehr Wirkung in Ungarn als in Strassburg".

Sommaruga betonte ausserdem, der Gerichtshof schreibe der Schweiz in keiner Weise vor, was sie konkret an Massnahmen zu ergreifen habe. Der Vorwurf, das Urteil greife in die demokratische Willensbildung ein, sei zurückzuweisen, fand auch Vara. Die Neuenburger Grünen-Ständerätin bezeichnete die Erklärung als Schande.

Mit der Erklärung erwecke der Ständerat den Eindruck, er habe in Sachen Klimaschutz alles im Griff, kritisierte Mathias Zopfi (Grüne/GL). Er warnte vor einem problematischen Signal insbesondere an jüngere Menschen, die sich um das Klima Sorgen machten.

"Spiel mit dem Feuer"

Zu reden gab, ob in der Erklärung explizit stehen soll, die Schweiz sehe keinen Anlass, dem Urteil weitere Folge zu geben. Der Text der Rechtskommission sah dies vor. Matthias Michel (FDP/ZG) verlangte, auf die Formulierung zu verzichten. Sein Einzelantrag fand jedoch keine Mehrheit.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International zeigte sich in einer Stellungnahme besorgt über den Entscheid. Der Ständerat spiele mit dem Feuer, schrieb sie. "Die Missachtung des EGMR-Urteils wäre ein verheerendes Signal an die europäischen Staaten, dass sie sich aussuchen können, welche Urteile sie befolgen wollen", liess sich Geschäftsleiterin Alexandra Karle zitieren. Die "chambre de réflexion" habe sich mutwillig zur "chambre de provocation" gemacht.