(sda) Alle volljährigen Schweizerinnen und Schweizer, auch Menschen mit geistiger Beeinträchtigung, sollen dieselben politischen Rechte und Pflichten in Bundessachen haben. Der Nationalrat will dafür die Verfassung anpassen.

Mit 109 zu 68 Stimmen und mit 16 Enthaltungen sagte der Nationalrat am Montag Ja zur Motion, die seine Staatspolitische Kommission (SPK-N) mit Stichentscheid von Präsidentin Greta Gysin (Grüne/TI) eingereicht hatte. Die Motion geht zurück auf eine Petition aus der Behindertensession im Jahr 2023.

16'000 Ausgeschlossene

Die Nein-Stimmen kamen namentlich von der SVP sowie aus der FDP, die Enthaltungen vor allem von FDP und Mitte. Der Bundesrat hatte ein Ja empfohlen. Er kann die verlangte Änderung der Bundesverfassung ausarbeiten, sofern der Ständerat zustimmt. Das letzte Wort zu einer Verfassungsänderung haben allerdings Volk und Stände an der Urne.

Heute stehen gemäss der Verfassung Menschen, die "wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind", die politischen Rechte nicht zu. Das schliesse rund 16'000 Menschen in der Schweiz automatisch vom Stimmrecht aus, schrieb die Nationalratskommission zum Vorstoss.

Wer wegen dauernder Urteilsunfähigkeit unter umfassender Beistandschaft stehe oder von einer vorsorgebeauftragten Person vertreten werde, dürfe nicht mit abstimmen, schrieb die SPK-N zum Vorstoss. Ein solcher Entzug dieses Rechts ist in den Augen der Mehrheit nicht statthaft.

Namens der Befürworter sprach Marc Jost (EVP/BE) von einer diskriminierenden Regelung, die dem Grundsatz der Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger widerspreche. Menschen mit geistiger Behinderung hätten durchaus politisches Interesse und engagierten sich in der Politik.

Beistandschaften hätten beispielsweise jene, die ihre Finanzen nicht selbst regeln könnten. Grundlage für einen Ausschluss vom Stimmrecht dürften sie nicht sein, sagte Jost. Das Risiko einer Beeinflussung gebe es bei allen, nicht nur bei Beeinträchtigten. Für sie dürften daher keine strengeren Massstäbe angewendet werden.

"Nicht handlungsfähig"

Eine starke Minderheit war gegen die Motion. Es gehe im Verfassungsartikel um Menschen, die unter umfassender Beistandschaft stünden, sagte Sprecher Benjamin Fischer (SVP/ZH).

Sie seien gemäss Zivilgesetzbuch in eigenen Angelegenheiten nicht handlungsfähig, auch nicht im Rechtsverkehr. Man müsse sich fragen, wer im konkreten Fall das Stimm- oder Wahlrecht für diese Menschen ausübe, warnte Fischer vor Missbrauch.

Der Bundesrat hingegen empfiehlt die Motion zur Annahme. Wählen und abstimmen zu dürfen bedeute Menschen mit Beeinträchtigung viel, sagte Justizminister Beat Jans dazu. Es gebe zwar ein legitimes öffentliches Interesse, Personen auszuschliessen, die die Bedeutung von Entscheiden nicht erfassen könnten.

Formulierung zu absolut

Aber die vorliegende Formulierung sei zu absolut und die Unterschiede von Kanton zu Kantone beim Einrichten von Beistandschaften gross. Es gebe zudem in einigen Kantonen bereits Beispiele von Aufhebungen derartiger Ausschlüsse.

Der Bundesrat befasste sich in einem im Jahr 2023 vorgelegten Postulatsbericht mit der Frage, ob die politischen Rechte auf Bundesebene auch das passive Wahlrecht einschliessen sollten, also die Wählbarkeit in den Nationalrat. Für unterschiedliche Regelungen sah er damals keinen Bedarf.

Es liege in der Verantwortung der Wählenden, zu beurteilen, ob eine Person das Amt auch ausüben könne, schrieb er. Im Ausland werde das passive Wahlrecht wegen psychosozialen oder geistigen Behinderungen oder wegen mangelnder Handlungsfähigkeit häufiger eingeschränkt als das aktive Wahlrecht.