​Datum: 14.06.1994
Anlass: Jubiläumsfeier 700 Jahre Eidgenossenschaft
Redner/Rednerin: Hans-Dietrich Genscher, Catherine Lalumière, Javier Pérez de Cuéllar
Funktion: Aussenminister Deutschland, Generalsekretärin Europarat, Generalsekretär UNO
Saal: Nationalrat

​Bereits ein halbes Jahr nach dem Auftritt Vaclav Havels im Ständerat, am 14. Juni 1991, wurde die Rednerbühne des Parlaments erneut für ausländische Gäste freigegeben. Im Rahmen der Feiern zum 700-Jahr-Jubliäum der Eidgenossenschaft waren zahlreiche Vertreter der internationalen Politprominenz ins Bundeshaus geladen. Drei von ihnen hielten am Festakt im Nationalratssaal je eine kleine Ansprache, nämlich der deutsche Aussenminister, Hans Dietrich Genscher, die Generalsekretärin des Europarates, Catherine Lalumière, und der UNO-Generalsekretär Javier Pérez de Cuéllar. Nach der Begrüssungsansprache von Nationalratspräsident Ulrich Bremi pries Genscher die Schweizer Demokratie und Kultur des Zusammenlebens. Er zeigte sich von der künftigen Einigung Europas, in der auch die Schweiz ihren Platz finden werde, überzeugt. Noch mehr Lobesworte fand Pérez de Cuéllar, der die Schweiz aus seiner früheren Tätigkeit als peruanischer Botschafter in Bern sehr gut kannte. Er pries die Mustergültigkeit und Weltoffenheit der Eidgenossenschaft, die Neutralität, die nie zu Absonderung geführt habe, und den wirtschaftliche Erfolg, den sie sich ohne grosse Rohstoffvorkommen erarbeitet habe. Ihre besondere Form menschlicher Solidarität verleihe der Schweiz eine «moralische Autorität». Der UNO-Generalsekretär schloss, dass man die Schweiz deswegen nur bewundern könne.(Der Bund, 15.06.1991, S. 15; NZZ, 15./16.06.1991, S. 21) Obwohl sich auswärtige Gäste grundsätzlich wohlwollend über das Gastland äusserten, war Pérez de Cuéllars Ansprache in dieser Hinsicht kaum mehr zu überbieten.

Demgegenüber kann das Votum seiner Vorrednerin, Catherine Lalumière, als die kritischste Rede eines ausländischen Gastes vor der Bundesversammlung gewertet werden. Zwar tat auch sie der Höflichkeit Genüge und bezeichnete die Schweiz als «bewundernswert», stellte dann aber einige zentrale Bereiche des schweizerischen Staatsverständnisses infrage. So zweifele sie am Sinn der direkten Demokratie angesichts des verbreiteten politischen Absentismus, am Nutzen der Neutralität, wegen der gebannten Gefahr eines europäischen Krieges, und an der Notwendigkeit der Konkordanz, weil so Probleme verschleiert werden könnten. In Bezug auf die europäische Integration, so meinte sie, dürfe sich die Schweiz nicht von einer streng wirtschaftlichen Logik leiten lassen. Die Generalsekretärin des Europarates nahm auch Bezug zum gleichzeitig stattfindenden Frauenstreiktag und soldarisierte sich mit den Schweizer Frauen, die vor dem Bundeshaus demonstrierten. (Der Bund» kommentierte Pérez de Cuéllars Laudatio wie folgt: «…eine schon fast euphorische Einschätzung, die in unserem Land wohl nicht von allen geteilt wird.» (Der Bund, 15.06.1991, S. 15)