Vor dem Eingang des Parlamentsgebäudes drängen sich an diesem 17. Dezember 1959 die Menschen. Ratsmitglieder, Presse, geladene Gäste und die 200 Personen, die einen Platz auf der Tribüne ergattert haben, strömen in den Nationalratssaal. An diesem Tag können allerdings zum ersten Mal auch Frau Schweizerin und Herr Schweizer zu Hause am Fernsehgerät die Gesamterneuerung des Bundesrates live mitverfolgen.

Es ist ein besonderer Tag: Am 17. Dezember 1959 ist es für die Schweizerinnen und Schweizer erstmals möglich, die Bundesratswahl live auf den (noch seltenen) Fernsehgeräten in ihren Stuben zu verfolgen. Die Kameras der Schweizer Filmwochenschau, die wöchentlich in den Kinos über das aktuelle Geschehen berichtet, sind zwar schon bei der Wahl von Eduard von Steiger und Karl Kobelt im Jahr 1940 dabei, doch die Bildqualität ist schlecht, da aufgrund des Kriegs Beschränkungen für die Ausleuchtung gelten. An diesem 17. Dezember 1959 sind die Kameras der Filmwochenschau erneut dabei, um die Bundesratswahl einzufangen. Doch dieses Mal sind sie nicht allein: Auch die SRG überträgt die Sitzung der Vereinigten Bundesversammlung live in Radio und Fernsehen.
 Aufbau der technischen Anlagen auf dem Dach des Parlamentsgebäudes für die Übertragung der Bundesratswahl vom 17. Dezember 1959

Aufbau der technischen Anlagen auf dem Dach des Parlamentsgebäudes für die Übertragung der Bundesratswahl vom 17. Dezember 1959 (©Keystone/PHOTOPRESS-ARCHIV/STR)

Zwischen 8.30 und 11 Uhr berichten die drei nationalen Sender (Beromünster, Sottens und Monte-Ceneri) in einer Sondersendung mit dem nüchternen Titel «Bundesratswahl und Vereidigung der Bundesräte» aus Bern. Der Vormittag wird begleitet von journalistischen Kommentaren und – wie das Programm von Radio Beromünster präzisiert – von Marschmusik und Jodelgesängen zwischen den Wahlgängen. Parallel dazu sorgt ein Team des Westschweizer Fernsehens aus dem Sendewagen für die Fernsehübertragung. Für diese Livesendung ist Jean-Claude Diserens (1927­–1991) verantwortlich, einer der Pioniere des Westschweizer Fernsehens. Die Bundeshauskorrespondenten Jacques Monnet und Georges Duplain kommentieren das Geschehen.

Diese mediale Berichterstattung ist ein riesiger Erfolg. Die Menschen versammeln sich hinter den 78 700 Fernseh- und rund 1,5 Millionen Radio-Empfangsgeräten und verfolgen die Sendung in den Wohnstuben, in eigens für diesen Anlass gemieteten Sälen, in Gaststätten oder vor den Schaufenstern der Fernseh- und Radiogeschäfte. In Zürich kommen 2000 Personen im Kongresshaus zusammen, um die Übertragung auf einer Grossleinwand zu verfolgen. Möglich ist dies dank einem fürs Kino entwickelten Eidophor-Projektor.

Ein Kameramann bei der ersten Liveübertragung einer Bundesratswahl (©Keystone/PHOTOPRESS-ARCHIV/STR)

Ein Kameramann bei der ersten Liveübertragung einer Bundesratswahl (©Keystone/PHOTOPRESS-ARCHIV/STR)

Die Bundesräte Max Petitpierre (FDP, NE), Paul Chaudet (FDP, VD) und Friedrich Traugott Wahlen (Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei [Vorgängerpartei der SVP], BE) werden ohne grosse Überraschung wiedergewählt. Die Spannung steigt, als es darum geht, vier Sitze neu zu besetzen – ein absolutes Novum. Frei geworden sind diese Sitze, weil Philipp Etter (Katholisch-Konservative [später CVP, heute: Die Mitte], ZG), Hans Streuli (FDP, ZH), Thomas Holenstein (Katholisch-Konservative, SG) und Giuseppe Lepori (Katholisch-Konservative, TI) zurückgetreten sind. Die offiziellen Kandidaten für die ersten drei Sitze werden im ersten Wahlgang gewählt: Jean Bourgknecht (Katholisch-Konservative, FR), Willy Spühler (SP, ZH) und Ludwig von Moos (Katholisch-Konservative, OW). Die Besetzung des vierten Sitzes ist umstrittener: Der Kandidat der SP, Walther Bringolf, landet in den ersten beiden Wahlgängen hinter Hans-Peter Tschudi (SP, BS) und dem Berner Freisinnigen Hans Schaffner. Nach dem zweiten Wahlgang zieht der Schaffhauser Bringolf seine Kandidatur zugunsten seines Basel-Städter Parteikollegen Tschudi zurück. Dieser wird dann gewählt, wodurch die SP endlich ihren zweiten Bundesratssitz erhält. Hans Schaffner zieht im Übrigen zwei Jahre später ebenfalls in den Bundesrat ein. Dieser Tag besiegelt die «Zauberformel», d. h. die Verteilung der Bundesratssitze gemäss der Parteistärke. Freisinnige, Sozialdemokraten und Konservative haben je zwei Sitze, die Bauern einen. Dieses 2-2-2-1-Modell wird bis zum 10. Dezember 2003 Bestand haben.

Hans-Peter Tschudi nimmt seine Wahl an. Mit dem Einzug eines zweiten Vertreters der SP in den Bundesrat wird die «Zauberformel»

Hans-Peter Tschudi nimmt seine Wahl an. Mit dem Einzug eines zweiten Vertreters der SP in den Bundesrat wird die «Zauberformel» erfunden, ein Sitzverteilungsprinzip, das bis 2003 Bestand hat. (©Keystone/PHOTOPRESS-ARCHIV/STR)

Das öffentliche Interesse ist enorm und dieser Erfolg kommt zu einem entscheidenden Zeitpunkt in der Entwicklung des Fernsehens. Nach verschiedenen Versuchen ab 1953 gibt es seit 1958 ein regelmässiges Fernsehprogramm auf Deutsch und Französisch (Italienisch ab 1961). Doch ein Teil der Bevölkerung und der Akteure im Medienbereich begegnet dem neuen Medium mit grossem Misstrauen. Der Verfassungsartikel über Radio und Fernsehen scheitert 1957 an der Urne und zwingt die SRG, ihre Strategie zur Entwicklung des Fernsehens anzupassen. Die Präsenz von Kameras im Bundeshaus wird als «Weihe» der SRG betrachtet und manifestiert deren Service-Public-Rolle.

Zwar feiern Übertragungen von Parlamentsdebatten in den USA und in Deutschland bereits Anfang der 1950er-Jahre Erfolge, doch noch 1955 lehnen es die Regierungen von Appenzell und Glarus ab, dass ihre Landsgemeinden vom Fernsehen gefilmt werden. Sie sind der Ansicht, dass dies die Würde des Anlasses verletzt und kein öffentliches Interesse vorliegt. In ihrem Geschäftsbericht 1959 schreibt die SRG nicht ohne Stolz:

«Zum ersten Mal seit über 80 Jahren wurden im Bundeshaus in Bern vier neue Bundesräte gewählt. Ein Ereignis, das mit einem Schlage das politische Interesse der Schweizerbürger hell aufweckte, die doch selbst nicht allzu eifrig zu den Wahlurnen schreiten. Zum ersten Mal war aber auch das ganze Volk eingeladen. unmittelbar Augen- und Ohrenzeugen des Wahlvorgangs zu sein, ja den neuen Bundesräten in die Wandelhalle des Parlamentsgebäudes zu folgen und dort ihre ersten Erklärungen entgegenzunehmen. An die vier Stunden hat diese Übertragung gedauert. Wer aber diesen Tag miterlebt hat, der musste es wissen: Das Fernsehen hat sich auch in der Schweiz das Bürgerrecht erworben.»

Zu diesem öffentlichen Erfolg kommt noch eine weitere Anerkennung für die SRG hinzu: Ihr Zentralpräsident Willy Spühler wird in den Bundesrat gewählt und übernimmt das Eidgenössische Post- und Eisenbahndepartement, das auch für die Aufsicht über die SRG zuständig ist. Zudem sind seine beiden neuen Kollegen Hans-Peter Tschudi und Ludwig von Moos Mitglieder der Radiogenossenschaft Basel bzw. der Radiogenossenschaft Bern.