Auf Einladung der Präsidentin der Freundschaftsgruppe Frankreich–Schweiz, Marion Lenne, weilte die Schweizer Delegation für die Beziehungen zum französischen Parlament (Del-F) am 13. und 14. Oktober 2021 in Paris. Die Delegation unter der Leitung von Nationalrat Pierre-André Page stellte das Thema Energie ins Zentrum ihres Besuchs. Der ursprünglich für November 2020 geplante Arbeitsbesuch, der aufgrund der Gesundheitsmassnahmen in Frankreich auf 2021 verschoben werden musste, knüpfte an den Besuch der Freundschaftsgruppe Frankreich–Schweiz der französischen Nationalversammlung in der Schweiz im Jahr 2018 an, welcher der Berufsbildung gewidmet war.
Die Schweizer Delegation traf die Mitglieder der Freundschaftsgruppe Frankreich–Schweiz des französischen Senats, namentlich deren Präsidenten, Senator Bernard Bonne. Die Senatsdelegation und die Del-F hatten sich seit ihren jeweiligen Neukonstituierungen noch nicht getroffen und kannten sich deshalb noch nicht. Nach einem Austausch über aktuelle bilaterale Themen schlug der Präsident der Senatsdelegation vor, im ersten Halbjahr 2022 ein Treffen zwischen lokalen Akteuren beider Länder, angefangen mit der Region Auvergne-Rhône-Alpes, zu organisieren. Nationalrat Pierre-André Page brachte die Idee ein, zu diesen Treffen Vertretungen der Kantonsregierungen einzuladen, um Diskussionen über konkrete Probleme zu ermöglichen. Diese Idee wird in Kürze konkretisiert werden. Das Treffen der beiden Delegationen war seit 2019 herbeigesehnt worden.
Auf dem Programm der Delegation stand im Weiteren ein Besuch in der Nationalversammlung, wo sie Fachleute aus dem Energiebereich traf. Die Del-F konnte sich mit Professor Alain Bécoulet, dem Leiter der Abteilung Ingenieurwesen der Kernfusionsanlage ITER treffen. Das ITER-Programm (ITER ist Lateinisch für «Weg») ist weltweit eines der ehrgeizigsten Energieprogramme, an dem sich 35 Länder aus der ganzen Welt[1] beteiligen. Das ITER-Abkommen von 2006 legt fest, dass die Unterzeichnerstaaten die Kosten für den Bau, den Betrieb und den Rückbau der Anlage teilen. Sie teilen zudem alle Versuchsergebnisse und das geistige Eigentum, das in der Betriebsphase generiert wird, die von 2022 bis 2042 dauern soll. Die europäischen Staaten tragen den grössten Teil der Baukosten (45,6 %), den übrigen Teil tragen China, Indien, Japan, Südkorea, Russland und die USA zu gleichen Teilen (je 9,1 %). Die Beiträge der Mitglieder erfolgen hauptsächlich «in natura», d. h. in Form von Gebäuden, Teilen und Systemen zugunsten der ITER-Organisation. Die Gespräche drehten sich natürlich um die Zukunft der Schweiz im ITER-Projekt. Da das Abkommen zwischen der Schweiz und der EU über die Teilnahme der Schweiz an den EU-Forschungsrahmenprogrammen für den Zeitraum ab 2021 nicht erneuert wurde, ist die Schweizer ITER-Beteiligung derzeit «eingefroren». Die Mitglieder der Del-F versicherten ihren Gesprächspartnerinnen und -partnern, dass das Ziel des [1] Neben dem Handelsabkommen, welches das Vereinigte Königreich und die Europäische Union am 20. Dezember 2020 schlossen, gibt es auch ein Abkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom), in welchem die Absicht des Vereinigten Königreichs, Mitglied der Euratom-Agentur «Kernfusion für die Energiegewinnung» (Fusion for Energy, F4E) zu bleiben, formell festgehalten ist. So können die britischen Fachleute und Unternehmen weiterhin voll zur Realisierung des ITER-Programms beitragen. Zu den 35 Teilnehmerländern gehören die 27 EU-Mitglieder, (via Euratom) die Schweiz und das Vereinigte Königreich sowie China, Indien, Japan, Südkorea, Russland und die USA.
Bundesrates die Vollbeteiligung der Schweiz an den EU-Forschungsrahmenprogrammen bleibt. Professor Bécoulet lobte die grosse Professionalität und die Qualität der Schweizer Partnerinnen und Partnern und äusserte die Hoffnung, dass bald eine Lösung gefunden wird.
Die Del-F traf ferner den Abgeordneten Vincent Thiébaut, Berichterstatter der Informationsmission zum Rückbau des Atomkraftwerks Fessenheim. Die Stilllegung dieses Kraftwerks war ein Wahlversprechen von Emmanuel Macron, welches dieser mit seiner Anordnung von 2020, die beiden Reaktoren vom Netz zu nehmen, einhielt. Bis 2035 sollen 12 weitere (der insgesamt 58) Reaktoren in Frankreich abgeschaltet werden, 4 bis 6 davon vor 2030. Vincent Thiébaut erläuterte sehr detailliert die Bedingungen der Stilllegung des Kernkraftwerks Fessenheim, deren wirtschaftliche und soziale Folgen für die Region, die umweltpolitischen Herausforderungen des Rückbaus und der Abfallbehandlung, die Auswirkungen auf die Stromversorgung und den Bausektor, den Revitalisierungsplan sowie die Rolle des Staates, der Gebietskörperschaften und des Stromversorgers Électricité de France (EDF). Diese Berichterstattung war für die Del-F sehr interessant, insbesondere die Erfahrungen der französischen Seite mit dieser Stilllegung und die Umsetzung und Begleitung des Projekts zur Revitalisierung des Gebiets um Fessenheim.
Am folgenden Tag, dem 14. Oktober, setzte die Del-F in der Nationalversammlung ihre Gespräche mit Fachleuten aus dem Energiebereich fort. Sie unterhielt sich mit Bertrand Le Thiec, Direktor für Öffentlichkeitsarbeit bei EDF, und einer Vertretung des Unternehmens Air Liquide bestehend aus Geneviève Salomon (Öffentlichkeitsarbeit) und Marc David (Energiewende).
Die französische Energiestrategie ist in mehrjährigen Energieprogrammen für den Zeitraum von 2019 bis 2028 definiert und zielt darauf ab, durch eine Erhöhung des Anteils der erneuerbaren Energien die Verwendung von Kohlenwasserstoffen zu reduzieren. Vorgesehen ist zudem die Stilllegung von Kernreaktoren, die veraltet sind oder deren Laufzeit zu Ende geht. Der von EDF produzierte Strom stammt derzeit zu 20 bis 25 Prozent aus erneuerbaren Energien. Das Unternehmen möchte diesen Anteil bis 2045 auf 40 bis 50 Prozent erhöhen. Staatspräsident Macron kündigte allerdings während des Besuchs der Del-F an, bei der Energiewende auch auf die Kernenergie zu setzen. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern betrachtet Frankreich die Atomkraft als «grüne» Energie, die dazu beitragen kann, die Ziele zur Senkung der CO2-Emissionen einzuhalten. Frankreich ist sehr abhängig von der Kernenergie, da 70 Prozent seines Stroms aus Kernkraftwerken stammt (Schweiz: 36 %, Deutschland: 19 %).
Die Schweiz ist aufgrund ihrer geografischen Lage im Herzen Europas eine Drehscheibe in Sachen Stromversorgung. Sie hat 41 Verbindungspunkte zu ihren Nachbarn und damit mehr als jedes andere Land auf der Welt. Für Frankreich ist sie deshalb ein wichtiges Transitland, insbesondere nach Italien. Der Strom, der jedes Jahr durch das Schweizer Netz fliesst, übersteigt den Landesverbrauch. Die Del-F wollte deshalb wissen, welches Potenzial EDF – nach dem Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Abkommen mit der EU – für eine Zusammenarbeit sieht, namentlich was den gemeinsamen Betrieb gewisser Stromkraftwerke im grenznahen Bereich angeht. EDF betonte, dass mit der Schweiz exzellent zusammengearbeitet wird, und äusserte ebenfalls die Hoffnung, dass rasch ein neues Abkommen zustande kommt.
Die Vertretung von Air Liquide präsentierte der Delegation die Strategie des Unternehmens zur Dekarbonisierung der Industrie. Die in der ganzen Welt tätige Air-Liquide-Gruppe hat das Ziel, in ihrem Geschäftsbereich eines der führenden Unternehmen zu sein, langfristig leistungsfähig zu sein und zu einer nachhaltigeren Welt beizutragen. Die Vertretung von Air Liquide erklärte der Delegation, dass das Unternehmen gemäss seiner Roadmap bis 2050 CO2-neutral sein möchte.
Den Abschluss des Arbeitsbesuchs bildete ein Austausch mit den Mitgliedern der Freundschaftsgruppe Frankreich–Schweiz der Nationalversammlung über verschiedene aktuelle bilaterale und grenzübergreifende Themen. Beide Delegationen begrüssten den Vorschlag des Präsidenten der Freundschaftsgruppe des Senats, ein Regionaltreffen zu organisieren. Die Mitglieder der französischen Delegation äusserten den Wunsch, je nach Interessenlage und Thema des Treffens ebenfalls zu diesem eingeladen zu werden. Die beiden Delegationen setzten sich das Ziel, ihre Beziehungen in den kommenden Jahren zu intensivieren.
Der Schweizer Delegation gehörten neben ihrem Präsidenten Pierre-André Page und ihrem Vizepräsidenten Ständerat Charles Juillard die Nationalrätinnen Brigitte Crottaz, Simone de Montmollin und Delphine Klopfenstein Broggini sowie die Nationalräte Michael Buffat und Benjamin Roduit an.
