Vom 9. bis zum 13. Oktober 2023 fand in Strassburg die vierte Teilsession der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PVER) statt. Es war die letzte PVER-Session in der 51. Legislatur. Die Delegation wird sich nach den nationalen Wahlen vom 22. Oktober neu konstituieren. Die Sessionswoche bot auch die Gelegenheit, das 60-Jahre-Jubiläum des Schweizer Beitritts zum Europarat zu begehen. Die Schwerpunkte aus Sicht der Schweizer Delegation (ERD) sind im Folgenden aufgeführt.

Die Versammlung führte dringliche Debatten über die humanitäre Lage in Bergkarabach, über die Forderung nach sofortiger Freilassung von Osman Kavala sowie über die Gewährleistung eines gerechten Friedens in der Ukraine und dauerhafter Sicherheit in Europa durch. Aktualitätsdebatten fanden über die Lage im Norden Kosovos und über die Eskalation der Gewalt im Nahen Osten nach dem jüngsten Angriff der Hamas auf Israel statt.



  1. 60 Jahre Schweiz im Europarat
  2. Schwerpunkte der Session
  3. Weitere Wortmeldungen von Mitgliedern der ERD
  4. Spezielle Sitzungen, Rahmenevents und Treffen


1. 60 Jahre Schw​eiz im Europarat

Am Mittwoch, 11. Oktober 2023, veranstaltete die Schweizer Parlamentarierdelegation zusammen mit der ständigen Vertretung beim Europarat einen Schweizer Abend zur Feier des 60-Jahre-Jubiläums des Schweizer Beitritts zum Europarat. Zum Anlass wurde Raclette serviert und der Abend wurde von einem Alphorn-Musikensemble begleitet. Eingeladen waren die Mitglieder der nationalen Delegationen bei der PVER sowie die ständigen Vertreterinnen und Vertreter der Mitgliedsländer im Ministerkomitee. Der Präsident der PVER, Tiny Kox (Niederlande, UEL), sagte in seiner Ansprache, die Schweiz habe sich durch ein hohes Mass an Engagement für die Grundsätze und Werte des Europarates ausgezeichnet und sei in den 60 Jahren ihrer Mitgliedschaft in der Organisation zu einem Pfeiler der multilateralen parlamentarischen Diplomatie geworden. Damien Cottier (FDP, NE) erinnerte an den Beitrag, den die Schweiz im Laufe der Jahre für die Organisation geleistet hat, und würdigte den Europarat als herausragende Institution, die sich für einen dauerhaften Frieden einsetzt.

v.l. Damien Cottier, Präsident ERD; Botschafter Claude Wild, ständiger Vertreter der Schweiz beim Europarat; Marija Pejčinović Burić, Generalsekretärin des Europarats; Tiny Kox, Präsident der PVER; ©Parlamentsdienste
v.l. Damien Cottier, Präsident ERD; Botschafter Claude Wild, ständiger Vertreter der Schweiz beim Europarat; Marija Pejčinović Burić, Generalsekretärin des Europarats; Tiny Kox, Präsident der PVER; ©Parlamentsdienste

Die Feier wurde zum Anlass genommen, eine neue Publikation der PVER mit Schlussfolgerungen der Konferenz von Bern zu präsentieren. Die Broschüre enthält eine Reihe von Empfehlungen für die Durchführung von Wahlen unter erschwerten Bedingungen und befasst sich mit möglichen Auswirkungen neuer digitaler Technologien auf Wahlvorgänge.

Tiny Kox, Präsident der PVER; Damien Cottier, Präsident ERD; ©Parlamentsdienste Tiny Kox, Präsident der PVER; Damien Cottier, Präsident ERD; ©Parlamentsdienste

2. Schwerpunkte der ​​Session

Die Versammlung führte zwei Aktualitätsdebatten durch. Im Mittelpunkt der ersten stand die Lage im Norden Kosovos. Ende September kam es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung im Norden Kosovos, als eine serbische Kampftruppe eine kosovarische Polizeipatrouille angriff. Dabei kamen vier Personen ums Leben, darunter ein kosovarischer Polizist. Diese Auseinandersetzung verschärfte die Krise zwischen Serbien und Kosovo und entfachte Ängste vor einem erneuten Konflikt.

Die zweite Aktualitätsdebatte betraf die Eskalation der Gewalt im Nahen Osten nach den jüngsten schockierenden Angriffen, die von der Hamas aus dem Gazastreifen gegen Zivilistinnen und Zivilisten in Israel verübt wurden. Zu den Rednerinnen und Rednern gehörten u. a. die Leiterin der israelischen Delegation, Meirav Ben Ari, welche aus Israel zugeschaltet wurde. Israel ist eines der Länder mit Beobachterstatus bei der PVER. Ebenfalls das Wort ergriff Bernard Sabella, der Präsident der palästinensischen Parlamentarierdelegation bei der PVER. Palästina hat den Status «Partner for Democracy» bei der PVER. Damien Cottier sprach im Namen der ALDE-Fraktion und verurteilte die «nicht tolerierbaren, unentschuldbaren und unmenschlichen Angriffe, welche an die schlimmsten Stunden der Menschheit erinnern». Nik Gugger (M-E, ZH) sprach sich für die Einstufung der Hamas als terroristische Organisation aus. Von der palästinensischen Führung forderte er eine Distanzierung von der Hamas. Auch Sibel Arslan (G, BS) bekräftigte, dass die Taten der Hamas Konsequenzen haben müssen, und verwies auf laufende Diskussionen in der Schweiz über griffige Massnahmen. Gleichzeitig betonte sie, dass Palästinenserinnen und Palästinenser eine neue politische Vision brauchen.

Nik Gugger, ©Parlamentsdienste Nik Gugger, ©Parlamentsdienste​

Sibel Arslan, ©ParlamentsdiensteSibel Arslan, ©Parlamentsdienste

Situation​ in Bergkarabach

In einer Dringlichkeitsdebatte befasste sich die Versammlung mit der humanitären Lage in Bergkarabach, nachdem über 100 000 ethnische Armenierinnen und Armenier aus der Region geflohen waren. Die Enklave Bergkarabach liegt auf aserbaidschanischem Gebiet, wurde aber bisher mehrheitlich von Armenierinnen und Armeniern bewohnt. Am 19. September 2023 startete Aserbaidschan eine Militäroperation zur Eroberung von Bergkarabach, dies nachdem die Region ab Dezember 2022 von der Aussenwelt abgeschnitten gewesen war (vgl. Schwerpunkte der PVER-Wintersession 2023: Blockade des Latschin-Korridors). Nationalrat Pierre-Alain Fridez (SP, JU) sprach die Problematik an, dass dem Berichterstatter der AS/Mig der Zugang zur Region von Aserbaidschan bisher verwehrt wird. Für Aussenstehende sei es seit Langem praktisch unmöglich gewesen, in die Region zu gelangen. Die Versammlung verabschiedete eine Resolution in der sie u. a. festhielt, dass der Europarat eine wichtige Beobachterrolle einnehmen und die Entwicklung der Situation über die nächsten Wochen und Monate eng begleiten sollte. Insbesondere wurde auch ein baldiger Besuch der Menschenrechtskommissarin und der geplante Besuch des Beratenden Ausschusses des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten als besonders wichtig eingestuft.

Pierre-Alain Fridez, ©ParlamentsdienstePierre-Alain Fridez, ©Parlamentsdienste​

Verleihung de​​s V​áclav-Havel-Menschenrechtspreises

Der diesjährige Václav-Havel-Menschenrechtspreis wurde am 9. Oktober 2023 an Osman Kavala verliehen. Kavala ist ein Menschenrechtsverteidiger, Philanthrop und ziviler Aktivist, der im Oktober 2017 wegen angeblicher Verbindungen zu den Gezi-Park-Protesten verhaftet wurde. Im April 2022 wurde er zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Den Preis nahm seine Ehefrau, Ayşe Buğra, entgegen.

Mit dem Preis wird herausragendes zivilgesellschaftliches Engagement für die Menschenrechte in Europa gewürdigt. Nominiert waren ausserdem:

  • Justyna Wydrzynska, eine auf Menschen- und Frauenrechte spezialisierte Anwältin aus Polen. Sie gründete das Abortion Dream Team und wurde zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt, weil sie einer Frau geholfen hatte, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden.
  • Evgeny Zakharov, ein Menschenrechtsaktivist aus der Ukraine, der sich seit mehr als 50 Jahren für die Menschenrechte in der Ukraine und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken einsetzt. Im Jahr 2022 gründete er das «Tribunal für Putin», eine Koalition von NGO, die Kriegsverbrechen dokumentiert und sichert.

Bei der Bekanntgabe des Preisträgers würdigte der PVER-Präsident alle Menschenrechtsverteidiger, die sich – oft unter Einsatz ihres Lebens – für den Schutz und die Förderung der Grundfreiheiten und Menschenrechte engagieren.

Die Versammlung führte auf Antrag der Präsidenten der fünf Fraktionen eine Dringlichkeitsdebatte durch und forderte erneut in einer Resolution die sofortige Freilassung von Osman Kavala.

3.Weitere Wortmeldung​​en von M​itgliedern der ERD

Herausford​erungen rechtsextremer Ideologie für Demokratie und Menschenrechte in Europa

Die PVER verabschiedete auf der Grundlage eines Berichts von Samad Seyidov (Aserbaidschan, EC/DA) und im Auftrag der Kommissionen für politische Angelegenheiten (AS/Pol) eine Resolution zu «den Herausforderungen rechtsextremer Ideologie für Demokratie und Menschenrechte in Europa». Darin werden die Bedrohungen für die Menschenrechte und das Funktionieren der demokratischen Institutionen thematisiert, die von rechtsextremen Ideologien herrühren. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, werden die politischen Parteien u. a. ermutigt, die Charta der europäischen politischen Parteien für eine nicht rassistische und integrative Gesellschaft zu unterzeichnen. Ada Marra (SP, VD) ergriff dazu das Wort.


Ada Marra, ©ParlamentsdiensteAda Marra, ©Parlamentsdienste

Pegasus und ähnliche Spionageprogramme sowie geheime staatliche Überwachung

Seit 2021 wurde in verschiedenen Untersuchungsberichten aufgedeckt, dass Regierungen mehrerer Mitgliedstaaten des Europarates eine Spyware namens Pegasus erworben und verwendet haben. Bei dieser Spyware handelt es sich um ein äusserst intrusives Überwachungsinstrument, welches auf Mobiltelefonen eingespeist wird. Die Versammlung zeigte sich besorgt über die im von der Kommission für Rechtsfragen und Menschenrechte (AS/Jur) in Auftrag gegebenen Bericht von Peter Omtzigt (Niederlande, EPP) aufgeführten Beweise dafür, dass Spionageprogramme wie Pegasus von mehreren Mitgliedstaaten zu illegalen Zwecken eingesetzt wurden, u. a. gegen Medienschaffende, politische Gegnerinnen und Gegner sowie Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten. Die Versammlung verurteilte unmissverständlich den Einsatz von Spionageprogrammen durch staatliche Behörden zu politischen Zwecken. Mit der Resolution wird das Ministerkomitee u. a. ersucht, eine Empfehlung an die Mitgliedstaaten des Europarates über geheime Überwachung und Menschenrechte zu verabschieden. Damien Cottier schloss in seiner Funktion als Präsident der AS/Jur die Debatte.

Damien Cottier, © Council of Europe Damien Cottier, © Council of Europe ​

Vorbeugung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen

Ada Marra (SP, VD) und Jean-Pierre Grin (SVP, VD) ergriffen das Wort zum Bericht von Béatrice Fresko-Rolfo (Monaco, ALDE). Der Bericht befasst sich mit der Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen. Er hebt die erhöhte Anfälligkeit von Menschen mit Behinderungen für Gewalt und Diskriminierung hervor: Frauen mit Behinderungen sind häufig mit Infantilisierung und Einschränkungen ihrer Autonomie konfrontiert, insbesondere in Bezug auf ihre sexuelle und reproduktive Gesundheit. In der einstimmig beschlossenen Resolution nennt die Versammlung eine Reihe von Massnamen, mit denen der Diskriminierung entgegengewirkt werden soll. Insbesondere forderte sie die Mitgliedstaaten auf, Zwangssterilisationen und Zwangsabtreibungen zu verbieten und dafür zu sorgen, dass die Opfer solcher Gewalt entschädigt werden.


Jean-Pierre Grin, ©ParlamentsdiensteJean-Pierre Grin, ©Parlamentsdienste

Damien Cottier ergriff bei der Eröffnung der Session das Wort zum Tätigkeitsbericht des Büros und der Ständigen Kommission.

4. Spezielle ​Sitzung​en, Rahmenevents und Treffen

In einer gemeinsamen Sitzung der Kommissionen AS/Pol, AS/Jur und AS/Mig wurden Vertreterinnen und Vertreter der russischen demokratischen Kräfte, welche die Werte des Europarates mittragen, angehört. In der öffentlichen Anhörung wurde über die gegenwärtige Situation der demokratischen Opposition in Russland, mögliche zukünftige Entwicklungen und die Frage, wie die Ukraine unterstützt werden kann, diskutiert. Zum Abschluss der Anhörung stellte der Präsident der PVER, Tiny Kox, in der PVER die Schaffung einer neuen ständigen Plattform für den Dialog mit russischen demokratischen Oppositionskräften in Aussicht. Damien Cottier war als Präsident der AS/Jur Co-Leiter der Sitzung.

Nach einer Dringlichkeitsdebatte verabschiedete die PVER eine Resolution, in der sie den andauernden Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine verurteilt. Darin fordert sie u.a. auch, die grosse Hungersnot in den 1930er-Jahren («Holodomor») als einen Akt des Völkermordes anzuerkennen. 

Arbeitstreffen der Schweizer mit der Li​​echtensteiner Delegation

Zu Beginn der Session führte die ERD den Dialog mit der Liechtensteiner Delegation fort über den bevorstehenden Vorsitz Liechtensteins im Ministerkomitee. Die Delegationen tauschten sich über die Prioritäten, die Agenda und die grössten Herausforderungen für die Organisation aus Sicht Liechtensteins aus. Am Arbeitstreffen waren auch Claude Wild und Domenik Wanger, die ständigen Vertreter der Schweiz bzw. Liechtensteins, anwesend.