Rückblick auf die 44. Legislaturperiode

1. Staatspolitik und Rechtsordnung

93.075 Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz
Organisation du gouvernement et de l'administration. Loi

Botschaft: 20.10.1993 (BBl III, 997 / FF III, 949)
Zusatzbericht des Bundesrates: 10.05.1995 (AB / BO 1995, 21.06.1995)

Ausgangslage

Das Vorhaben der Regierungsreform läuft in zwei Phasen ab. Bei der vorliegenden Botschaft geht es in erster Linie um die Ausgestaltung der Phase 1, der sogenannten "Reform 1993", welche sich im Rahmen des geltenden Verfassungsrechts bewegt und somit schnell realisiert werden kann. Der Bundesrat schlägt hiezu den Erlass eines neuen Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes (RVOG) vor, welches das geltende Verwaltungsorganisationsgesetz (VwOG) ablöst. Die anschliessende Reformphase 2 soll sich nicht nur auf das Regierungsorgan konzentrieren, sondern die gesamte Staatsleitung (alle Gewalten sowie das Verhältnis zu den Kantonen) einbeziehen. Dies wird auch zu Verfassungsänderungen führen.
Phase 1 der Regierungsreform: Oberstes Ziel der Reform 1993 und des neuen Gesetzes ist die Stärkung der Regierungsfunktion und des Bundesratskollegiums. Dies soll durch Vorkehrungen geschehen, die sich direkt auf die Tätigkeit des Kollegiums auswirken, sowie durch Entlastungsmassnahmen zugunsten des Bundesrates und seiner Mitglieder, mit denen die notwendige Zeit für die Kollegiumsarbeit gewonnen werden soll. Dazu gehört insbesondere die Verbesserung von Organisation und Führung der Verwaltung sowie der Einsatz von Staatssekretärinnen und Staatssekretären.
Zur Stärkung des Bundesratskollegiums: Das Gesetz gibt eine Prioritätenordnung für die Tätigkeit des Bundesrates vor. Danach hat er der Wahrnehmung der Regierungsobliegenheiten Vorrang einzuräumen. Um die Zeit für die intensivierte Kollegiumsarbeit und Vorbereitungstätigkeit zu finden, sind folgende Verbesserungs- und Entlastungsmassnahmen vorgesehen:

1. Verbesserung von Organisation und Führung der Departemente: Der Bundesrat trägt die Verantwortung für die Führung der Verwaltung sowie für Ziele und Aufgabenerfüllung des Verwaltungshandelns. Um dieser Verantwortung tatsächlich gerecht zu werden und sich gleichzeitig bei departementalen Aufgaben entlasten zu können, muss ihm die Kompetenz eingeräumt werden, die Verwaltung hinsichtlich Struktur, Ausstattung, Arbeitsweise und Kontrollen zweckmässig zu organisieren. Relativ starre gesetzlich festgeschriebene Strukturen behindern die Anpassung an veränderte Verhältnisse. Die Vorlage sucht daher eine gesteigerte Flexibilität der Verwaltungs- und Führungsstrukturen, freilich ohne notwendige Elemente der Kontinuität preiszugeben. Der Schlüssel zu dieser Beweglichkeit liegt in einer erweiterten Organisationskompetenz des Bundesrates.

2. Eine neue Art von Staatssekretärinnen und Staatssekretären: Eine der kennzeichnenden institutionellen Neuerungen dieser Vorlage sind die Staatssekretärinnen und Staatssekretäre. Das Gesetz gibt eine Rahmenordnung vor, welche die Funktionen, Wahl und Entlassung sowie die Verantwortlichkeit der Staatssekretärinnen und Staatssekretäre regelt. Die gesetzliche Umschreibung der Funktionen sieht vor, dass die Staatssekretärinnen und Staatssekretäre in erster Linie mit Führungsaufgaben betraut werden (Führung der gesamten Departementsverwaltung, einer Gruppe oder eines Amtes; als Generalsekretärinnen und Generalsekretäre mit wichtigen Führungsaufgaben) und dass sie in dieser Funktion anstelle der Departementsvorsteherin oder des Departementsvorstehers im Parlament, im Verkehr mit dem Ausland und in der Öffentlichkeit auftreten können. Sie können auch Sonderaufgaben von besonderer Tragweite mit departementsübergreifendem Charakter übernehmen.
Grundsätzlich setzen die Departementsvorsteherinnen oder Departementsvorsteher ihre Staatssekretärinnen und Staatssekretäre selber in die Führungsstruktur ihres Departements ein (mindestens eine Person, höchstens drei). Das Bundesratskollegium hat indes den Letztentscheid für alles Bedeutende in der Hand: Es legt die Grundsätze für die Stellung und Aufgaben der Staatssekretärinnen und Staatssekretäre fest und wählt diese (und zwar ohne Einbezug des Parlaments) unter Festlegung ihres Einsatzes.
Mit der Reform 1993 werden Staatssekretärinnen und Staatssekretäre sui generis geschaffen, die sich organisch in das spezifisch schweizerische Regierungssystem einfügen. Die in diese Funktion Gewählten sind weit mehr als Titularstaatssekretärinnen und -sekretäre nach heutigem Recht. Diese sind beamtet, stehen einer Gruppe, einem Amt oder einem Generalsekretariat vor und sind mit dem Staatssekretärentitel für den Verkehr mit dem Ausland ausgestattet. Die neue Institution der Staatssekretärinnen und Staatssekretäre schafft indessen eine eigenständige "Funktionengruppe" in unmittelbarer Nähe der Departementsvorsteherin oder des Departementsvorstehers. Die neuen Staatssekretärinnen und Staatssekretäre sind nicht beamtet, sondern haben einen eigenen Status (zwischen Magistrats- und Beamtencharakter).
Phase 2 der Regierungsreform: Diese Phase setzt nicht die Suche nach einer neuen Regierungsstruktur (Regierungsreform) an die erste Stelle, sondern befasst sich mit den Führungsstrukturen und -prozessen auf der ganzen Breite des Regierungssystems. Im Vordergrund stehen materielle Reformthemen der Staatsleitung: neben dem Regierungsorgan selber auch das Verhältnis zwischen Parlament und Regierung, der Rechtssetzungsprozess, für die Staatsleitung relevante Gerichtsbarkeit, Erneuerung in der föderativen Staatsführung. Ein sachgerechtes Vorgehen führt dazu, dass das Fundament und alle tragenden Elemente des "Regierungsgebäudes" in die Betrachtungen einbezogen werden, d. h. die Themen der Staatsleitung, auf denen aufbauend schliesslich der passende Abschluss des Gebäudes, das Regierungsorgan selbst, konstruiert wird.

Zusatzbericht

Als Antwort auf einen im Nationalrat gutgeheissenen Antrag (siehe unten) legt der Bundesrat einen Zusatzbericht vor. Die gewünschte Flexibilisierung der haushaltrechtlichen und personalwirtschaftlichen Bestimmungen soll durch Änderungen im Finanzhaushaltgesetz und im Bundesgesetz über Massnahmen zur Verbesserung des Bundeshaushaltes, welches die Stellenbewirtschaftung regelt, herbeigeführt werden. Damit soll in vermehrtem Ausmass eine wirkungsorientierte Verwaltungsführung (New Public Management) möglich werden.

Verhandlungen

SR 09.03.1994 AB 1994, 143, 170
NR 26.01.1995 AB 1995, 115, 137, 145
SR 21.03.1995 AB 1995, 353
NR 21.06.1995 AB 1995, 1426, 1442
SR 21.09.1995 AB 1995, 876
NR 26.09.1995 AB 1995, 1924
SR 03.10.1995 AB 1995, 986
NR 04.10.1995 AB 1995, 2075
SR / NR 05.10.1995 Schlussabstimmungen (40:2 / 91:62)

Im Ständerat unterstützte die vorberatende Kommission das Projekt grundsätzlich, beantragte jedoch beim Kernpunkt der Vorlage, der Schaffung von zusätzlichen Staatssekretärposten, zwei wichtige Änderungen: Deren Zahl soll von maximal 21 auf 10 reduziert und ihre Wahl durch die Bundesversammlung bestätigt werden. Den ersten Antrag begründete sie mit dem Risiko eines Referendums infolge der zusätzlichen Kosten, den zweiten mit dem politischen Gewicht, das Staatssekretäre haben müssen, um den Bundesrat spürbar im Parlament und in aussenpolitischen Verhandlungen entlasten zu können. Im Plenum opponierte Zimmerli (V, BE) mit einem Rückweisungsantrag grundsätzlich gegen die Schaffung von zusätzlichen Staatssekretärposten. Seiner Ansicht nach würde damit die Fortsetzung der Reform in Richtung auf ein zweistufiges Regierungskabinett und zuungunsten der von ihm vorgezogenen Lösung einer Heraufsetzung der Zahl der Bundesräte präjudiziert. In der Detailberatung wurde sein Antrag mit 25 zu 6 Stimmen abgelehnt. Die Zahl der Staatssekretäre wurde auf zehn begrenzt und mit Zweidrittelsmehrheit gegen den Widerstand des Bundesrates auch die Wahlbestätigung durch die Bundesversammlung eingeführt. In der Gesamtabstimmung nahm der Rat die Reform mit 21 zu 3 Stimmen an.
Um zu unterstreichen, dass für ihn damit die Bemühungen um eine Regierugsreform nicht abgeschlossen sind, entsprach der Ständerat anschliessend dem Antrag des Bundesrates nicht, zwei 1991 überwiesene Motionen der FDP-Fraktion und von Kühne (C, SG) für eine Regierungsreform als erfüllt abzuschreiben. Gleichzeitig verlängerte er die Frist für die Bearbeitung der überwiesenen parlamentarischen Initiative Rhinow (R, BL), um gegebenenfalls die Reformarbeiten in eigener Regie weiterführen zu können.
Der Nationalrat hatte sich zunächst mit mehreren Rückweisungsanträgen zu befassen. Ein Antrag Schmid Peter (G, TG) auf Rückweisung mit dem Auftrag, eine Erhöhung der Anzahl der Bundesräte vorzusehen, wurde mit 135 zu 27 Stimmen abgelehnt. Ebenfalls abgelehnt wurde ein Rückweisungsantrag der LdU/EVP-Fraktion, welcher auf den Übergang zu einem parlamentarischen Konkurrenzsystem abzielte, dies mit 131 zu 23 Stimmen. In einer Eventualabstimmung standen sich sodann zwei Rückweisungsanträge von Fraktionen gegenüber. Mit 71 zu 70 Stimmen wurde der Antrag der Sozialdemokraten gutgeheissen, der das Geschäft in zwei Vorlagen aufteilen wollte: in einen organisatorischen Teil und in eine Vorlage betreffend die Staatssekretärinnen und Staatssekretäre. Die SVP-Fraktion hatte demgegenüber beantragt, die Bestimmungen über die Staatssekretärinnen und Staatssekretäre überhaupt auszuklammern. In einer definitiven Abstimmung wurde der Antrag der SP-Fraktion mit 89 zu 74 Stimmen angenommen, diesmal dank der Zustimmung aus Kreisen, die gegen die neuen Staatssekretäre waren.
Der Rat befasste sich sodann mit dem organisatorischen Teil (Vorlage A). Bei Artikel 49 wurde ein Antrag der Minderheit gutgeheissen, wonach der Bundesrat für Gruppen und Ämter mit Leistungsauftrag Ausnahmen vom Finanzhaushaltgesetz vorsehen kann, falls dies im Interesse einer wirtschaftlichen Verwaltungstätigkeit notwendig ist und die erforderlichen Kontrollen gewährleistet sind. Nachdem auch der Ständerat dieser Idee positiv gegenüberstand, legte der Bundesrat am 10. Mai 1995 einen Zusatzbericht zur Botschaft vor (siehe oben).
Umstrittener als der erste Teil war sodann die Vorlage B, das neue Bundesgesetz über die Entlastung des Bundesrates durch Staatssekretärinnen und Staatssekretäre. Nachdem zunächst ein Nichteintretensantrag einer Minderheit Steinemann (A, SG) abgelehnt worden war, setzte sich in der Detailberatung in der Frage der Bestätigung die Position des Bundesrates durch, die von linker und grüner Seite Unterstützung fand. Tschäppät Alexander (S, BE) befürchtete als Sprecher der obsiegenden Minderheit, dass die Bestätigung durch das Parlament zu "äusserst heiklen politischen Problemen" führen könnte, insbesondere falls das Parlament diese Bestätigung als Kontrollinstrument und als Gelegenheit zu Misstrauenskundgebungen gegenüber einzelnen Bundesräten auffassen würde. Die Kommissionsmehrheit sowie weitere Redner wollten dagegen mit einer Bestätigung die Legitimation der Gewählten erhöhen. Ein Antrag von Loeb (R, BE), die Zahl der Staatssekretäre auf 15 zu erhöhen, unterlag mit 126 gegen 21 Stimmen. In der Gesamtabstimmung kumulierten sich nun aber die grundsätzlichen Gegner, die Befürworter von ambitiöseren Reformen und die Anhänger einer Wahlbestätigung durch das Parlament zu einer heterogenen Mehrheit, die mit 74 gegen 59 Stimmen die Vorlage ablehnte.
Der Ständerat hielt stillschweigend an der Einheit der Vorlage fest und folgte damit Bundespräsident Villiger, der festhielt, dass die Verwaltungsreform ohne Staatssekretäre ein Torso bleiben würde. In der Frage der Bestätigung setzte sich ein Kompromissvorschlag Petitpierre (R, GE) durch. Danach wählt der Bundesrat nach jeder Gesamterneuerung die Staatssekretäre neu. Vor dem Parlament dürfen aber nur jene Staatssekretäre Regierungsmitglieder vertreten, die der Bundesrat von der Vereinigten Bundesversammlung mit einem Sammelvorschlag in globo hat bestätigen lassen.
Im Nationalrat regte sich weiterhin starker Widerstand gegen die Einführung von Staatssekretären. Ein Antrag der von Steinemann (A, SG) angeführten Kommissionsminderheit auf Festhalten am bisherigen Beschluss wurde aber schliesslich mit 55 zu 99 Stimmen abgelehnt. Bei der Regelung der Detailfragen setzte sich die Kommissionsmehrheit durch, die im wesentlichen die Beschlüsse des Ständerates übernommen hatte. Danach kann nun der Bundesrat bis zu zehn Staatssekretäre einsetzen. Der Bundesrat wählt die Staatssekretäre nach jeder Gesamterneuerung des Bundesrates neu und kann ihre Bestätigung durch die Bundesversammlung verlangen. Eine Bestätigung ist erforderlich, wenn sich der Bundesrat in den Verhandlungen der beiden Räte durch Staatssekretäre vertreten lassen will. Die Bestätigung, die nach dem Willen des Ständerates gesamthaft hätte erfolgen sollen, wollte der Nationalrat aber einzeln vornehmen.

Der Ständerat hielt bei der Beratung der verbliebenen Differenzen bei Artikel 6 daran fest, dass der Begriff des Regierens im Gesetz definiert wird. Nach Auffassung der mit ihrem Antrag erfolgreichen Minderheit soll damit erstmals auf Gesetzesebene klar umschrieben werden, welches die wesentlichen Regierungstätigkeiten sind. Wie schon der Nationalrat stimmte auch der Ständerat den mit dem Zusatzbericht beantragten neuen Bestimmungen nach geringfügigen Veränderungen zu.

Da der Nationalrat an seiner Haltung festhielt, die Regierungstätigkeit nur in einer knappen Formulierung zu umschreiben, kam es zu einer Einigungskonferenz, deren Kompromissvorschlag schliesslich die Zustimmung beider Kammern fand.

Legislaturrückblick 1991-1995 - © Parlamentsdienste Bern

 

Hauptinhaltverzeichnis
Inhaltverzeichnis des aktuellen Kapitels Index Inhaltverzeichnis des folgenen Kapitels
Rückkehr zum SeitenbeginnRückkehr zum Seitenbeginn

HomeHome