Rückblick auf die 44. Legislaturperiode der
Eidgenössischen Räte |
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Einleitung
Um die vergangene Legislaturperiode in ihren historischen
Rahmen zu stellen, erlauben wir uns zunächst in aller Kürze einige Hinweise auf das
internationale, das europäische und das nationale Umfeld. Für ausführlichere
Darstellungen verweisen wir auf andere Quellen, so vor allem auf das Jahrbuch für
Schweizerische Politik, auf die Ausführungen in den Geschäftsberichten des Bundesrates
sowie auf den am 29. März 1995 erschienenen Zwischenbericht zur europäischen
Integrationspolitik der Schweiz.
Weltpolitik
Das Ende des Kalten Krieges hat nicht die mancherorts
erhoffte "Neue Weltordnung" gebracht, die durch den Sieg der Demokratie, durch
Frieden, Wohlstand, Stabilität und durch die Respektierung der Menschenrechte
gekennzeichnet wäre. Die Sicherheit hat sich bestenfalls im europäisch-atlantischen Raum
erhöht; in weiten Teilen der restlichen Welt wird das Leben durch Instabilität, Krisen
und Gewaltausbrüche geprägt. Den von wirtschaftlichen Schwierigkeiten geplagten
Grossmächten fehlen dabei die Mittel und auch der Wille für erfolgreiche Interventionen;
sie können und wollen in diesen krisengeschüttelten Regionen höchstens punktuell
eingreifen. Im Rahmen der bestehenden internationalen Institutionen beschränken sie sich
darauf, Konflikte untereinander zu vermeiden und die Ausweitung der anderen Konflikte zu
begrenzen. Eine Fragmentierung der Welt zeichnet sich ab in Zonen der vergleichsweisen
Ordnung und Stabilität und in Zonen der Unübersichtlichkeit und des Chaos. Während 1995
der 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges begangen wurde, sterben jährlich noch
immer Hunderttausende von Menschen in kriegerischen Auseinandersetzungen. Für die
vergangenen vier Jahre heben wir nur die Konflikte in Afghanistan, Angola, Somalia,
Ruanda, Tschetschenien und Ex-Jugoslawien hervor. Für das europäische Bewusstsein am
Schmerzlichsten dürfte der Krieg in Bosnien sein, der seit 1991 anhält und Gegenstand
von immer neuen bedrückenden Bildern und Meldungen bildet. Im Herbst 1995 liessen
intensive amerikanische Friedensbemühungen, die im November zu einem in Dayton (USA)
erreichten Friedensabkommen führten, wieder Hoffnung auf eine Beendigung des Konfliktes
aufkommen.
Die Weltwirtschaft befand sich in den Berichtsjahren in
einer Schwächephase, die jedoch ihren Tiefpunkt überwunden hat. Ein wichtiges Ereignis
bildete die Abschlusskonferenz der sog. "Uruguay-Runde" des GATT, die im April
1994 in Marrakesch stattfand. Damit endete eine internationale Verhandlungsrunde, auf der
die inzwischen 121 Mitgliedstaaten des GATT in jahrelangen Verhandlungen versucht hatten,
das Welthandelssystem neu zu ordnen. Das GATT soll den weltweiten fairen Wettbewerb
fördern und durch Handel zur Wohlstandsvermehrung beitragen. Die institutionelle Seite
wurde verbessert durch die Einrichtung einer neuen Welthandelsorganisation (WTO) als
Überwachungsorgan für die GATT-Abkommen und durch Regeln für
Streitschlichtungsverfahren.
Europa
Der europäische Integrationsprozess setzte sich trotz
Schwierigkeiten und Verzögerungen fort und führte zu bedeutenden Veränderungen. Am 1.
November 1993 trat das Vertragswerk von Maastricht in Kraft. Aus der Europäischen
Gemeinschaft (EG) wurde die Europäische Union (EU), ein wirtschaftlicher und politischer
Zusammenschluss von 12 westeuropäischen Staaten, der sich neben den bisherigen Zielen der
EG den Aufbau einer gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP), die Zusammenarbeit
bei der Justiz- und Innenpolitik sowie die Schaffung einer Währungsunion zum Ziel gesetzt
hat. Der europäische Binnenmarkt mit den vier Freiheiten - freier Verkehr von Waren,
Personen, Dienstleistungen und Kapital - , der seit dem 1. November 1993 in Kraft ist,
bedarf allerdings noch weiterer substantieller Realisierungsschritte.
Einen Markstein in der Geschichte der EU bildeten die
Beitritte von Finnland, Österreich und Schweden, die auf den 1.1.1995 erfolgten, nachdem
zuvor in hart umkämpften Volksabstimmungen einem Beitritt zugestimmt worden war. In
Norwegen hingegen lehnte das Volk einen Beitritt knapp ab. Ein Jahr nach Inkrafttreten
umfasst das EWR-Abkommen auf seiten der EFTA nur noch Norwegen und Island und bald auch
Liechtenstein. Die EFTA-Strukturen werden infolge des EU-Beitritts dreier Mitgliedstaaten
redimensioniert werden.
Was die politische Entwicklung in den einzelnen Ländern
betrifft, so bestätigten die erfolgten Wahlen im allgemeinen die bestehenden
traditionellen Parteien oder Parteisysteme. Dennoch ist nicht zu verkennen, dass sich die
Parteienlandschaft in Bewegung befindet; auf Kosten der in Bedrängnis geratenen
Sozialisten verzeichneten vor allem populistisch ausgerichtete neue Rechtsparteien
Gewinne. Während in Deutschland die bestehende Koalition von CDU/CSU und FDP und damit
auch Bundeskanzler Kohl aus den Bundestagswahlen vom 16. Oktober 1994 erneut als Sieger
hervorgingen, führten in Frankreich die Wahlen zur Nationalversammlung vom 21. und 28.
März 1993 zu einer schweren Niederlage der Linken. Im Mai 1995 kam es sodann auch bei der
Wahl des Präsidenten der Republik zu einem Machtwechsel; an Stelle des zurücktretenden
François Mitterrand wurde der Gaullist Jacques Chirac zum neuen Staatsoberhaupt gewählt.
Dramatische Veränderungen erlebte Italien, wo die Wahlen vom März 1994 für die seit
1945 regierenden Parteien vernichtende Ergebnisse brachten und neue politische Kräfte
unter Ministerpräsident Silvio Berlusconi die Regierungsverantwortung übernehmen
konnten. Schwierigkeiten unter den Bündnispartnern führten allerdings bereits im
Dezember 1994 zum Rücktritt Berlusconis. Seit dem Januar 1995 leitet nun Lamberto Dini
eine aus Fachleuten gebildete Regierung.
In den ehemaligen Mitgliedsländern des
"Ostblocks" setzte sich der von grossen Schwierigkeiten, aber auch von Erfolgen
begleitete Umgestaltungsprozess fort. Die meisten der "Reformländer" verfolgten
einen konsequent marktwirtschaftlichen Kurs und streben mittel- bis längerfristig einen
Beitritt zur EU oder zumindest zum EWR an. Seit dem 1. Januar 1993 gehören als
Nachfolgestaaten der aufgelösten Tschechoslowakei neu die Tschechische Republik
(Tschechien) und die Slowakei der Staatengemeinschaft an.
Die Schweiz
Angesichts wachsender Budgetdefizite und einer schlechten
Wirtschaftslage blieb der Handlungsspielraum von Bundesrat und Parlament in allen
Politikbereichen ausgesprochen begrenzt. Die dramatische Verschlechterung der Finanzlage
führte zu zahlreichen Debatten über Voranschläge, Sparmassnahmen und neue
Einnahmenquellen. Bei vielen Vorlagen rückte die Frage der Finanzierbarkeit in den
Vordergrund, so vor allem im sozialen Bereich (AHV/IV, Gesundheitswesen,
Arbeitslosenversicherung) oder in Verkehrsfragen (Sanierung der SBB, Bahn 2000, Neat).
Daneben stellte sich nachdrücklich die Frage nach Verbesserungen und Anpassungen der
bestehenden Strukturen und nach Massnahmen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der
Schweizer Wirtschaft. Die Auseinandersetzungen um die Verteilung der zur Verfügung
stehenden Mittel wurden härter, und das politische Klima war dementsprechend in
zunehmendem Mass von Verunsicherung und Gereiztheit gekennzeichnet. Wie im übrigen
Europa, dessen Sozialstaaten sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert sehen, begannen
Schlagworte und populistische Vereinfachungen die politischen Auseinandersetzungen zu
dominieren. Mit Besorgnis wurde ein Verlust an Dialogbereitschaft beobachtet, der sich
insbesondere zwischen städtischen Agglomerationen und ländlichen Gebieten sowie zwischen
den verschiedenen Sprachregionen bemerkbar macht. Einen Höhepunkt erreichte das
Unbehagen, nachdem am 12. Juni 1994 gleich drei Abstimmungsvorlagen verworfen worden waren
(Kulturförderungsartikel, erleichterte Einbürgerung für junge Ausländer,
Blauhelmtruppen). Die Ablehnung einer Lockerung der Lex Friedrich in der Volksabstimmung
vom 25. Juni 1995 vertiefte den Graben zwischen Behörden und Volk und belastete einmal
mehr das Verhältnis zwischen den Sprachgebieten.
Europapolitik
Die Frage nach der Stellung der Schweiz in Europa blieb ein
Dauerthema und sorgte schon kurz nach Beginn der neuen Legislatur für gewichtige
Traktanden. Unter Einschaltung von Sondersessionen berieten die eidgenössischen Räte den
EWR-Vertrag und die sich daraus ergebenden Anpassungen des Bundesrechts (Eurolex). Nachdem
der EWR-Vertrag in beiden Kammern mit deutlichen Mehrheiten gutgeheissen worden war,
lehnte das Volk am 6. Dezember 1992 in einer denkwürdigen Volksabstimmung die Vorlage
äusserst knapp ab, dies nach einem langen und ausserordentlich engagiert geführten
Abstimmungskampf.
Die von den Behörden danach praktizierte Europapolitik
bestand notgedrungen aus zwei Elementen: Einerseits aus dem autonomen Nachvollzug der
Gesetzgebung der Europäischen Union, was im Rahmen des Swisslex-Paketes und vieler
anderer Gesetzgebungen geschah, und andererseits im Abschluss von bilateralen Verträgen
mit der EU. Nachdem die Annahme der Alpenschutzinitiative am 20. Februar 1994 für
Verwirrung und Beunruhigung gesorgt hatte, wurde am 12. Dezember 1994 eine erste Phase von
bilateralen Verhandlungen eröffnet, die gegenwärtig noch im Gange ist.
Die Bundesversammlung
Die Jahre der 44. Legislaturperiode, 1991-1995, haben für
die eidgenössischen Räte erneut grosse Herausforderungen gebracht. Wie aus diesem
Rückblick hervorgeht, hat das Arbeitsvolumen wiederum zugenommen und bezüglich
Sitzungsstunden und Anzahl der behandelten Geschäfte zu neuen Rekorden geführt. Auch in
qualitativer Hinsicht hat das Parlament eine bemerkenswerte Arbeit geleistet, indem seine
Kommissionen zahlreiche wichtige Vorlagen in eigener Regie mitgestaltet haben.
Schwerpunkte der 44. Legislaturperiode
Angesichts der Vielzahl und der Bedeutung der behandelten
Geschäfte hält es schwer, besondere Schwerpunkte der Legislatur hervorzuheben. Wir
verweisen auf die einzelnen Kapitel und erwähnen an dieser Stelle nur einige wenige
Geschäfte. Vorlagen, bei denen das Parlament eine wesentlich vom bundesrätlichen
Vorschlag abweichende Lösung verabschiedete, werden durch fetten Druck hervorgehoben.
- Arbeitslosenversicherungsgesetz. Teilrevision (93.095)
- EWR. Abkommen und Anpassung des Bundesrechts (92.052und 92.057 1-50)
- Finanzordnung. Ersatz (91.079)
- Für weniger Militärausgaben und mehr Friedenspolitik.
Volksinitiative (94.062)
- Gatt/Uruguay-Runde. Abkommen und Gesetzesänderungen (94.079und 94.080 1-17)
- Krankenversicherung. Revision (91.071)
- Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz (93.075)
- Rüstungsprogramm 1992 (91.080)
- Schutz des Alpengebietes vor dem Transitverkehr.
Volksinitiative (92.016)
- 10. AHV-Revision (90.021)
Gesetzgeberische Eigenleistungen hat das Parlament auch mit
dem Instrument der parlamentarischen Initiative erbracht (vgl. Anhang E1, E2, E3). Von den 200 erledigten Initiativen führten 24 zu
einem Erlass, zwei davon zu neuen Verfassungsartikeln (Zivildienst und Handel mit Waffen,
vgl. Liste im Anhang E).
Zu den weiteren herausragenden Ereignissen der Legislatur
gehören auch die Bundesratswahlen vom 3. und 10. März 1993 und vom 27. September
1995 (siehe Abschnitt "Vereinigte Bundesversammlung")
und die Herbstsession 1993 im Centre International de Conférences in Genf. Nachdem
der Entscheid über die Verlegung der Session nach Genf zunächst umstritten gewesen war
(siehe die Debatten vom 17. Juni 1993 im Nationalrat und vom 18. Juni 1993 im Ständerat),
wurde die Session in Genf, die in ein umfangreiches Rahmenprogramm eingebettet war,
schliesslich allgemein als Erfolg gewertet. Damit fand zum erstenmal seit 1848 eine
Session der eidgenössischen Räte nicht in Bern statt.
In der letzten Sessionswoche der Legislatur beschlossen
beide Kammern die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission (Puk) zur
Abklärung der Missstände bei der Pensionskasse des Bundes (vgl. Geschäft 95.067). Es handelt sich dabei erst um die vierte
Untersuchungskommission, die bisher eingesetzt worden ist.
Einen nachhaltigen Dämpfer erfuhren die Bemühungen um
eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Parlamentarier, nachdem in der
Volksabstimmung vom 27. September 1992 zwei noch in der vorangegangenen Legislaturperiode
vorbereitete Vorlagen (Infrastruktur- und Entschädigungsgesetz) klar verworfen worden
waren. Die Arbeitssituation blieb danach für viele Ratsmitglieder weiterhin
unbefriedigend. In der Folge wurden auch die Bemühungen um einen Erweiterungsbau zum
Parlamentsgebäude eingestellt (siehe Geschäft 92.402),
und ein Versuch, die Vorsorgeregelung für die Ratsmitglieder zu verbessern, scheiterte
(siehe Geschäft 94.409). Gewisse Verbesserungen brachten
jedoch die Erhöhung der Fraktionsbeiträge (Geschäft 93.442),
der Ausbau der Parlamentsdienste sowie zahlreiche bauliche Massnahmen. 1995 begannen
grössere Bauarbeiten im Bundeshaus Ost, wo eine beträchtliche Zahl von Arbeitsräumen
für Ratsmitglieder und Fraktionssekretariate geschaffen werden soll. Insgesamt werden
für die Ratsmitglieder rund 160 Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, d. h. etwa doppelt
so viele wie heute.
Eine Effizienzsteigerung brachte ferner auch die
Einführung des elektronischen Abstimmungsverfahrens (ab Frühjahrssession 1994, vgl. Anhang I). - Als positiven Punkt heben wir im weiteren
den Übergang zu einem System mit ständigen Kommissionen hervor, das zu Beginn der
Legislatur eingeführt wurde. Auch wenn an dieser Stelle keine abschliessende Beurteilung
möglich ist, so kann doch gesagt werden, dass die Vorteile die Nachteile überwiegen und
dass das neue System viel dazu beigetragen hat, dass das Parlament den aussergewöhnlichen
Anforderungen seines Arbeitspensums gewachsen war. Die Parlamentsdienste legten dazu einen
ausführlichen Bericht vor (Evaluation des Kommissionensystems 1992 - Sommer 1995, Bericht
vom 14. August 1995), der gestützt auf eine Umfrage in den Fraktionen zu einer
überwiegend positiven Beurteilung kam.
Legislaturrückblick 1991-1995 - © Parlamentsdienste Bern
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