Während der ersten fünfzig Jahren des Bundesstaates mussten sich amtierende Bundesräte alle drei Jahre zuerst als Nationalräte wählen lassen, bevor sie von der Bundesversammlung im Amt bestätigt wurden – oder auch nicht. Die inkonsequent gehandhabte Regelung führte zu unklaren Situationen und lief sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts allmählich von selber tot.

​Ein amtierender Bundesrat, der zugleich gewählter Nationalrat ist? Was für eine Idee! Die Schweiz kennt die Gewaltentrennung zwischen Legislative und Exekutive. Die Aufgaben und Funktionen von Parlament und Bundesrat sind klar voneinander abgegrenzt. Die beiden Mandate sind unvereinbar. Eine Doppelrolle wäre für den Einzelnen auch gar nicht praktikabel. Sollte er etwa als Nationalrat über eine Vorlage abstimmen, die er als Bundesrat ins Parlament eingebracht hat?

Bundesräte auf den Nationalrats-Wahllisten

So absurd es klingt, völlig aus der Luft gegriffen ist dieses Konstrukt nicht. In der Tat fungierten im ersten halben Jahrhundert des Schweizer Bundesstaates die Bundesräte, damals ausschliesslich Freisinnige, alle drei Jahre auf den Nationalrats-Wahllisten. Das war eine ungeschriebene Regel und sie widersprach eigentlich Artikel 66 der Bundesverfassung: «Die Mitglieder des Ständerathes, des Bundesrathes und von lezterem gewählte Beamte können nicht zugleich Mitglieder des Nationalrathes sein». Dennoch bedeutete die Nichtwahl eines Bundesrates in den Nationalrat in mehreren Fällen auch das Ende der Karriere als Regierungsmitglied.

Jedenfalls war es nicht so, dass die kaum zu bewältigende Doppelrolle lange währte. Die Nationalratswahlen fanden schon damals im Herbst statt, und die Räte traten ihr Amt in der Wintersession an. Mitte der Wintersession erfolgten die Bestätigungswahlen des Bundesrates und nach der Wahl gaben die Bundesräte ihr Nationalratsmandat selbstverständlich ab. Im Unterschied zu heute konnte nicht einfach der Nächste aus der Liste nachrücken, sondern es mussten Nachwahlen organisiert werden; alles in allem ein kompliziertes Prozedere.

 

Session im ehemaligen Nationalratssaal (heute Bundeshaus-West), 1859. Quelle: Historisches Museum Bern (Archiv DAB)

Ein Zutrauensvotum

Die Wahl der Bundesräte in den Nationalrat wurde als «Zutrauensvotum» bezeichnet, das heisst, das Volk sprach den Bundesratsmitgliedern, die es ja nicht selbst gewählt hatte, sein Vertrauen aus. Man findet in diesem Verfahren also ein Puzzleteilchen zur Idee der Volkswahl des Bundesrates.
Diese Möglichkeit wird alle paar Jahrzehnte in die politische Diskussion eingebracht; zum ersten Mal 1871 vom freisinnigen Genfer Politiker und Publizist James Fazy, dann 1898, 1939 und 2008 von linker Seite und in jüngster Zeit mit einer Volksinitiative der SVP, die 2013 abgelehnt wurde. In diesem «Zutrauensvotum» konnten die Stimmbürger sich indirekt dazu äussern, ob sie mit dem Bundesrat aus ihrem Kanton zufrieden waren. Meistens wurden die Bundesräte problemlos in den Nationalrat gewählt – meistens, aber nicht immer. Es kam zu Komplikationen, Tricks, zum Scheitern einzelner Bundesräte und schliesslich zum offenen Aufbegehren gegen diese Regel.

 

Bundesrat durch Volkswahl – Ja-Plakat des Aktionskomitees für die Volkswahlinitiative, 1942 (Quelle: Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, ZHdK)

Komplikationen programmiert

Der erste Bundesrat, der in seinem Kanton bei der Nationalratswahl durchfiel, war 1854 der Tessiner Stefano Franscini. Ihn retteten die Schaffhauser. Bei ihnen hatte in den ersten zwei Wahlgängen kein Kandidat das absolute Mehr erreicht, deshalb gaben die Freisinnigen im dritten Wahlgang dem Tessiner eine Chance, und im vierten Wahlgang wurde er tatsächlich gewählt. Hernach wurde er auch von der Bundesversammlung bestätigt, wenn auch nicht glanzvoll. Der Berner Bundesrat Ulrich Ochsenbein unterlag 1854 seinem Rivalen Jakob Stämpfli bei der Nationalratswahl, und im Dezember zog auch die Bundesversammlung ihm Stämpfli vor.

Wilhelm Näff aus St. Gallen erhielt 1866 das Zutrauensvotum des Stimmvolks nicht, dennoch wurde er durch die Bundesversammlung wiedergewählt. 1869 und 1872 trat er zur Nationalratswahl gar nicht erst an, wurde trotzdem im Amt bestätigt, aber jedes Mal nur knapp. Umgekehrt erging es dem Genfer Jean-Jacques Challet-Venel. Er wurde 1872 komfortabel in den Nationalrat gewählt, erlitt jedoch bei der Bundesratsbestätigungswahl Schiffbruch. Dem Luzerner Josef Martin Knüsel versagte 1875 das Stimmvolk das Zutrauensvotum, worauf er aus dem Bundesrat zurücktrat, ohne abzuwarten, wie das Verdikt der Bundesversammlung ausfallen würde.

Geburt eines Ausdrucks…

Man sieht: Es war eine verwirrende Regelung, es gab alle möglichen Varianten, unklare und komplizierte Situationen. Sie konnte das Ende einer politischen Laufbahn bedeuten, sie konnte aber auch umgangen werden, oder man konnte ihr die Stirn bieten. Skeptische Stimmen wurden laut. Deutliche Kritik äusserte als Erster 1881 der Solothurner Nationalrat Simon Kaiser. Er prägte den Ausdruck «Komplimentswahl» und schrieb: «Man erniedrigt das Wahlrecht des Volkes zu einer Befriedigung des Ehrgeizes, vielleicht der Höflichkeit, zu einem Komplimente». Kaiser beantragte 1881 mit einer Motion, mittels einer Revision des eidgenössischen Wahl- und Abstimmungsgesetzes, die Unvereinbarkeit der beiden Ämter zu statuieren. Die Reaktion des Bundesrates darauf war jedoch der gegenteilige Vorschlag, die Möglichkeit der Komplimentswahl explizit im Gesetz festzuschreiben. Letztlich setzte sich indessen weder Kaiser noch der Bundesrat durch.

…Tod einer Praxis

Aber die Kritik schlief nicht ein. Die «Züricher Post» bezeichnete die Komplimentswahl gar als «Putzpulver für die Kronen» der Bundesräte. In den 1890-er Jahren erfolgte dann recht rasch eine Praxisänderung. Als Erster verzichtete 1887 der Thurgauer Bundesrat Adolf Deucher ganz offiziell auf eine Kandidatur für den Nationalrat und damit auf das Zutrauensvotum. Das war nun für die Bundesversammlung kein Grund mehr, ihm die Wiederwahl zu verwehren. Bei den nächsten Wahlen folgten ihm ein Kollege nach dem anderen, und 1896 stellte sich der letzte Bundesrat, nämlich der Genfer Adrien Lachenal, einer Komplimentswahl.
Ein kleines Revival erlebte die Idee der zweifachen Wahl 2005, als sich Bundesrat Blocher öffentlich überlegte, 2007 auch zur Nationalratswahl anzutreten. 

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