​Es gilt das gesprochene Wort.

Ref. Kirche Langnau i. E., 21. September 2014, 09.30 Uhr

Lieber Herr Pfarrer Kocher,

Sehr geehrte Frau Gemeindeleiterin Annelies Camenzind, sehr geehrter Herr Gemeindepräsident, geschätzte Damen und Herren Kirchgemeinderäte, geschätzte Sänger aus Deutschland und Musiker aus Langnau-Trubschachen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Mitchristen

Auf diesen Augenblick habe ich mich seit Wochen gefreut. Es war mir schon zu Beginn meines Präsidialjahres ein Anliegen, am Eidg. Dank-, Buss- und Bettag an einer ökumenischen Gedenkfeier teilzunehmen. In diesem Bestreben wurde ich im Bundeshaus von Beat Christen, dem Vertreter der vereinigten Bibelgruppen und Marie José Portmann von den Parlamentsdiensten unterstützt. Beat Christen ist heute unter uns. So ist es für mir eine Ehre, mit ihnen, liebe Mitchristen in dieser schönen Kirche von Langnau den Bettag zu feiern.

Sehr geehrter Herr Pfarrer Kocher, lieber Hermann, ich danke Dir herzlich für die freundliche Einladung. 

Ihre Kirche beeindruckt mich, und auch der Kirchturm mit den fünf Glocken, die das Emmental zum Gebet rufen! Im Bundeshaus gibt es bloss zwei Glöckchen, eines im Ständeratssaal und eines im Nationalrat, die helfen jeweils, um Ordnung in den Saal zu rufen.

Einmal allerdings hat ein Junge, der mit seiner Klasse das Parlamentsgebäude besichtigte hat, gesagt: „Ich fühle mich wie in einem Dom“. Nicht ohne Grund: Neben dem politischen Ideal der Vielfalt in der Einheit, mit der schönen glasbemalten Kuppe, symbolisiert das Bundeshaus auch religiöse Werte: Die Kreuzform der Kuppelhalle erinnert sowohl an das Symbole des Schweizer Wappens wie auch an das Kreuz des christlichen Glaubens.

Man entdeckt Niklaus von Flüe in einer Nische. Er streckt seine Arme aus, wie damals, als er im Dezember 1481 beim Stanser-Verkommnis die Stadt- und Landkantone zur Versöhnung bat. Und die erhöhte Rütligruppe mit den drei schwörenden Eidgenossen sieht aus wie ein Hochaltar. Das ganze Parlamentsgebäude hat zeremoniellen Charakter, und ich muss gestehen, das gefällt mir gut, weil ich gute Traditionen zu schätzen weiss.

Das wiederum hat vermutlich mit dem Interesse an der Geschichte zu tun, welches mich bereits mit sechs Jahren gepackt hat. Damals, 1956 als sowjetische Truppen in Ungarn einmarschierten – ich konnte noch nicht einmal lesen, aber ich sah die Fotos der russischen Panzer in Budapest - hatte ich Verbarmen mit dem ungarischen Volk. 1968, während des 'Prager Frühlings', war ich 18-jährig, und ich dachte, dass es eines Tages wieder Krieg geben werde und ich dann als Schweizer Soldat für mein Vaterland kämpfen würde. Dazu ist es gottlob nicht gekommen. Die Politik hat mich jedoch stets interessiert, aber ich hatte keinerlei Ehrgeiz, selber zu politisieren.

Dorthin hat es mich sehr viel später verschlagen und heute darf ich Ihnen als Präsident der Bundesversammlung die freundlichen Grüsse des Parlamentes ins schöne Emmental bringen. Es ist eine besondere und gute Eigenart der Schweizer Milizpolitik, dass man – speziell im Präsidialjahr - die angesprochene Einheit und die Vielfalt der Schweiz hautnah erlebt - beispielsweise heute hier bei Ihnen in dieser Kirche. Während meiner ganzen politischen Laufbahn stand für mich nie zur Diskussion, mein Dorf, meine Region oder meine Jagdfreunde aufzugeben. Heute darf ich mit einem Gefühl der Dankbarkeit und Demut zurückblicken.

Zufrieden sein, dankbar und demütig sein für das was man hat, das eigene Erbe respektieren, ohne dabei übersteigerte Ambitionen zu hegen: Das ist ein gutes Credo. Durch meine Präsidentschaft führt mich der Satz des französischen Philosophen Jean Paptist Massillon: La gratitude est la mémoire du cœur“ „Dankbarkeit ist das Gedächtnis des Herzens.“ Oder, der reformierte Pfarrer von Meggen hat es in seiner Festpredigt zum 950-Jahrjubiläum der Gemeinde Meggen anders ausgedrückt, als er sagte: „Dankbarkeit ist geistlicher Genuss. Sie nimmt Glück und Pflicht, Verantwortung und Freude als Gaben entgegen.“

Die Fähigkeit, das zu schätzen, was man hat, sollte auch eine Hauptachse in der Politik sein. Mein Vater, der Aktivdienst geleistet hat zwischen 1939 bis 1945 – er hat mir das Bild der wehrhaften Eidgenossenschaft vermittelt. Meine Mutter, aufgewachsen an den Gestaden des Vierwaldstättersees, sie prägte in mir das Bild der lieblichen, friedlichen Schweiz. Beide, Mutter und Vater maßen dem Eidgenössischen Buss-, Dank- und Bettag eine ganz besondere Bedeutung zu. Nach dem Gottesdienst und nach dem Mittagessen war in der Familie Zeit für stille Einkehr. Ich genoss die intime Stimmung, unter der niedrigen Decke beim Kachelofen. So habe ich als kleines Kind gelernt, dass man betet, um Gott zu loben und zu danken. Am dritten Sonntag im September empfinde ich jedes Jahr dieses Wohlgefühl, die gleiche tiefgründige Freude und Dankbarkeit für das Leben, für die Natur, für unser schönes Land, für die Schweiz.

Es ist heute nicht mehr selbstverständlich, ohne Hintergedanken danke zu sagen. Vielleicht wird es wegen des herrschenden Überflusses schwieriger, uns unseres Wohlstandes und Glückes überhaupt bewusst zu sein. Man vergisst, dass wir privilegiert sind, in einer lieben Familie und einem unversehrten Land, in Freiheit und Eintracht leben zu dürfen. Ein Land, wo auch die Schwachen Rechte haben. Wir alle können mit unserem Stimmzettel zu wichtigen Fragen Stellung nehmen. Der politische Gang ins Stimmbüro ist vergleichbar mit dem religiösen Gang zur Kirche. Beide festigen das Zusammenleben und man fühlt sich dann im besonderen Mass als aktiver Teil der politischen oder religiösen Gemeinschaft.

Wenn ich zu Hause durch mein Dorf Romoos gehe, kennen mich alle Leute und ich kennen alle auch. Ich duze jeden und jeder duzt mich – vom kleinen Knopf bis zum 90-jährigen Rentner. Der Lebensraum, in dem man gewachsen ist, wo man sich bewegt, lebt und arbeitet, er prägt uns Menschen. Man fühlt sich mit der Gemeinschaft, der Natur und der Landschaft eng verbunden. Es ist wichtig, dieses Erbe den nächsten Generationen zu übermitteln. Ferdinand Hodler hat es einmal in einem Satz gesagt: „Die Landschaft, in der wir leben, gehört zu uns wie Vater und Mutter“.

Es gibt nichts schöneres, als am frühen Morgen in eben diese Landschaft hinaus zu gehen und den Übergang von der Nacht zum Tag zu erleben. Das Erwachen eines neuen Tages hat etwas Mystisches, Geheimnisvolles in sich. Und auf einmal fängt das Zwitschern der Vögel an, die Tiere erwachen, und schliesslich auch die Sonne. Dabei kommt mir jeweils der Schlusssatz der „Bärgandacht“ von Reto Stadelmann in den Sinn, wenn die Jodler singen „Herrgott, hesch Du d’Wält schön gmacht!“

In diesen Momenten spürt man fast körperlich die Anwesenheit des Schöpfers. Die Natur hat eine sakrale Macht, sie inspiriert, erheischt Respekt und Ehrfurcht. Diese Gefühle, diese Bilder, diese Eindrücke kommen auch dann wieder an die Oberfläche, wenn ich die Gelegenheit habe, unsere Nationalhymne, den Schweizerpsalm zu hören oder zu singen. Am ersten August, zum Beispiel:

«Trittst im Morgenrot daher»: Unser patriotisches Gebet ist nicht gerade leicht zu singen, aber der Text ist eine wunderbare Ode an den Herrgott. Ich bin sicher, dass wie ich, der grösste Teil der Bevölkerung den Schweizerpsalm positiv empfindet, er propagiert keine Gewalt, sondern die Liebe zum Schöpfer, zu Heimat und Vaterland.

„Im Namen Gottes des Allmächtigen“, wie die Präambel der Bundesverfassung anfängt, wünsche ich der ganzen Schweizerischen Bevölkerung und ganz besonders Ihnen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger aus dem Emmental einen besinnlichen, frohen Eidg. Bettag. „La gratitude est la mémoire du cœur.“ Lassen wir unser Herz sprechen - wir haben allen Grund, dankbar zu sein. Möge unser Land auch in Zukunft vor Unglück, innerer Zwietracht und Krieg verschont bleiben.

Ruedi Lustenberger, Nationalratspräsident