​Geschätzte Kolleginnen und Kollegen
Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher


Sie erinnern sich, im letzten Jahr hatte das Büro des Nationalrats auf Initiative unseres zurückgetretenen Ratskollegen Hans-Jörg Fehr beschlossen, jeweils am 12. September der Gründung des modernen Bundesstaates zu gedenken. Mein Vorgänger im Amt, Alt-NRP Hansjörg Walter hat damit letztes Jahr begonnen. Heute ist es an mir, Sie auf den Jahrestag aufmerksam zu machen, der schliesslich auch für das Parlament schicksalsbestimmend war: Ohne 1848 würde es und somit auch wir als Volksvertreterinnen und Volksvertreter in dieser Form nicht existieren. Das war genau heute vor 165 Jahren.
 
Die NZZ schrieb damals euphorisch: Am 12. September 1848 gleich nach 1 Uhr verkündeten der Kanonendonner die frohe Botschaft, dass der neue Bund angenommen worden ist. Das Herz wogt höher. Die Schweizernation ist endlich zum Wort gekommen, sie hat ihr gebührendes Stimmrecht erhalten. Die Nation bisher nur in den Herzen der Besseren lebend, steht nun da in unbestreitbarer Wirklichkeit, mit ausgedehnten Vollmachten ausgerüstet.
Sie sehen hier, in der Mitte des Saales, eine Reproduktion dieser ersten Bundesverfassung, die uns das Schweizerische Bundesarchiv zur Verfügung stellt. Dafür bedanke ich mich ganz herzlich. Ich weiss nicht, wie es Ihnen ergeht, aber ich habe diese erste Verfassung unseres Bundesstaates noch nie in seiner ganzen Form gesehen. Ich bin beeindruckt und erfreut, dass wir ab heute ein Exemplar davon im Parlamentsgebäude haben werden. Wir werden für dieses wichtige Dokument hier im Haus noch einen definitiven Ausstellungsort festlegen. 
 
Geschätzte Kolleginnen und Kollegen
Der 12. September 1848 markiert die Geburtsstunde der modernen Schweiz, der Schweiz der Gleichheit und Solidarität. Es lohnt sich, sich darüber ein paar Gedanken zu machen.
Denn diese erste Bundesverfassung war das Resultat eines schmerzhaften Prozesses, eines religiös geprägten Bürgerkrieges. Es war trotz aller Schärfe des Konflikts ein «very civil war», wie es ein amerikanischer Autor einmal ausgedrückt hat. Nicht nur waren zum Glück sehr wenige Tote zu beklagen, nach dem Sieg der eidgenössischen Truppen verlor sich auch die Schärfe der Debatte von einem Augenblick auf den anderen.
Konsequenterweise waren es die liberalen Gewinner des Krieges, die der neuen Verfassung ihren Stempel aufdrückten - aber sie taten das nicht ohne Kompromisse einzugehen. Das war entscheidend. Die Siegerkantone machten gerade in religiösen Fragen und Fragen der kantonalen Souveränität grosse Zugeständnisse.
Diese Zugeständnisse wurden in einem Klima der Offenheit und der Solidarität gemacht: Nirgends in Europa wurde die neue Organisation der Gesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts offener diskutiert als in der Schweiz. Wie sollen sich die Menschen am politischen Prozess beteiligen können? Wie soll das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Bürger geregelt werden? Was heisst es, wirklich frei zu sein?
Das Ringen um persönliche Freiheit und Mitbestimmung, der respektvolle Umgang einer siegreichen Mehrheit mit einer unterlegenen Minderheit von damals sind beispielhaft bis heute. Und aktuell wie nie. Denken wir an die jungen Demokratien in Nordafrika und Südosteuropa, die gerade jetzt genau um all diese Fragen ringen.
Die Schweiz ist hier mit ihrem demokratischen Aufbau und mit ihrer Erfahrung nicht nur Vorbild, sondern auch gefragter Partner für den Aufbau von demokratischen Prozessen und staatlichen Strukturen. Sicher viele von Ihnen,  geschätzte Kolleginnen und Kollegen, können dies aus Ihrer aussenpolitischen Arbeit bestätigen.
Wir dürfen also zu recht stolz sein, wenn junge Demokratien sich unsere Verfassung und die Entstehung unseres Staates zum Vorbild nehmen und von unserem Wissen profitieren möchten. Und wir tun gut daran, wenn wir uns dann und wann selber an unsere politische Vorväter und sicher auch „Vormütter“ erinnern. Unsere erste Bundesverfassung als Reproduktion heute vor uns zu haben, ist ein schöner Anfang dafür.