Am 24. September 1968 übertrug das Schweizer Fernsehen erstmals integral eine parlamentarische - notabene aussenpolitische - Debatte live. Der Nationalrat diskutierte bei voll besetzten Rängen im Saal und auf der Tribüne über die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings durch Truppen des Warschauer Pakts (militärischer Beistandspakt des Ostblocks) einen Monat zuvor. 

​Der Prager Frühling zählt zu den Schlüsselereignissen des Kalten Kriegs in Europa. Es war der Versuch, in der Tschechoslowakei einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» zu schaffen. Dies war der Plan des zu Beginn des Jahres 1968 an die Macht gelangten Reformers Alexander Dubček. Seine Regierung beabsichtigte, die Wirtschaft zu reformieren und der Bevölkerung die Meinungs-, die Informations- und die Reisefreiheit zu gewähren sowie die stalinistische Vergangenheit aufzuarbeiten. Dies führte jedoch zu wachsenden Spannungen mit der sowjetischen Führung und mündete in der Nacht zum 21. August in den Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts. Damit war die Liberalisierung der politischen Verhältnisse de facto beendet. Der Einmarsch kostete 98 Zivilisten und 50 Soldaten das Leben. Zehntausende verliessen danach das Land.

Zwei Tschechoslowaken gehen mit hochgehobener Nationalflagge an einem brennenden sowjetischen Panzer vorbei     

Zwei Tschechoslowaken gehen mit hochgehobener Nationalflagge an einem brennenden sowjetischen Panzer vorbei.
(Bildquelle: 10 Soviet Invasion of Czechoslovakia - Flickr - The Central Intelligence Agency.jpg)

Die Reformpolitik der Prager Führung war in der Schweiz schon zu Beginn auf grosse Sympathien gestossen. Umso grösser war die Empörung, als der Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen den Reformprozess brutal abwürgte. Proteste vor der sowjetischen Botschaft in Bern und Kundgebungen in grösseren Städten waren Ausdruck davon. Es ist also kein Zufall, dass gerade die nationalrätliche Diskussion zu diesem Thema, die Max Aebischer (CVP/FR, 1914-2009) mit seiner Interpellation angestossen hatte, als erste parlamentarische Debatte überhaupt live übertragen wurde. Der Ständerat führte einen Tag später eine Aussprache zum selben Thema durch. Aufzeichnungen der Übertragung existieren nicht.

Flüchtlinge finden eine vorübergehende Bleibe in einem Empfangszentrum des Roten Kreuzes in Buchs, St Gallen 

Flüchtlinge finden eine vorübergehende Bleibe in einem Empfangszentrum des Roten Kreuzes in Buchs, St Gallen 

Flüchtlinge finden eine vorübergehende Bleibe in einem Empfangszentrum des Roten Kreuzes in Buchs, St Gallen.
(Bildquelle: Schweizerisches Rotes Kreuz)

27 Redner meldeten sich in der fünfeinhalbstündigen Diskussion zu Wort. Der Truppeneinmarsch wurde ausnahmslos verurteilt. Der Nationalrat unterstützte den von Bundespräsident Willy Spühler (SP, 1902-1990) dargelegten Kurs des Bundesrates in der Landesverteidigung und in der Neutralitätspolitik. Er begrüsste auch die grosszügige Asylpolitik gegenüber Flüchtlingen aus der Tschechoslowakei – bis Ende 1970 kamen 12 000 Menschen in die Schweiz. Die Presse wertete die Debatte als positiv, wenngleich etwa „Der Bund“ mäkelte, es habe Redner gegeben, denen die Pose vor der Kamera wichtiger war als der Inhalt ihres Beitrags gewesen sei.

Politische Schwergewichte wie die späteren Bundesräte Kurt Furgler (CVP, 1924-2008) und Georges-André Chevallaz (FDP, 1915-2002) ergriffen das Wort. Aber auch der erst im Herbst 1967 für den LdU in den Rat gewählte Kabarettist Alfred Rasser (AG, 1907-1977) trat ans Rednerpult. Rasser bekundete seine Verbundenheit mit dem gebeutelten Land und würdigte den gewaltfreien Widerstand der tschechoslowakischen Bevölkerung. Er erinnerte an den tschechischen Schriftsteller Jaroslav Hašek (1883-1923), den Schöpfer des „braven Soldaten Schwejk“, der ihn zur Figur des gutmütig-tollpatschigen HD-Soldaten Läppli inspiriert hatte. Für Rasser verkörperte Hašeks Schwejk, der mit seiner naiven und eigensinnigen Art Autoritätspersonen zur Weissglut trieb, das Prinzip des passiven Widerstands. In diesem Geist habe sich die Bevölkerung mutig den Panzern und Gewehren entgegengestellt.

Alfred Rasser im Nationalratssal  

Alfred Rasser im Nationalratssal
(Bildquelle: Screenshot Youtube : https://www.youtube.com/watch?v=IU6FklK_l5o)

Trotz dieses Widerstands war das Ende des Prager Frühlings besiegelt. 21 Jahre später fegte jedoch die von weiten Teilen der Bevölkerung getragene Samtene Revolution das sozialistische System hinweg. Damals spielten auch Protagonisten des Prager Frühlings eine wichtige Rolle, etwa Alexander Dubček, der kurzzeitig Parlamentspräsident wurde, und vor allem der Dissident und Schriftsteller Václav Havel (1936-2011), der zwischen 1989 und 2003 als Präsident zunächst der tschechoslowakischen und ab 1993 der tschechischen Republik amtierte.

 

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