Der Nationalrat tritt vom 9. bis zum 11. Mai 2022 zu einer Sondersession zusammen. «Man sollte vielmehr von ‹Nachholsitzung› sprechen, ähnlich wie bei Studierenden, die einen Rückstand aufholen oder eine Prüfung wiederholen müssen», erklärt der Generalsekretär der Bundesversammlung Philippe Schwab. Mit der anstehenden Sondersession erhielten die Nationalratsmitglieder drei zusätzliche Verhandlungstage, die angesichts der Zunahme der parlamentarischen Vorstösse sehr wertvoll seien.

Philippe Schwab (58) ist seit 1. Juli 2013 Generalsekretär der Bundesversammlung und Leiter der Parlamentsdienste (PD). Von 2008 bis 2012 war er stellvertretender Generalsekretär und Sekretär des Ständerates. Seine Laufbahn in den PD begann er als stellvertretender Sekretär der Geschäftsprüfungskommissionen und der Geschäftsprüfungsdelegation, bevor er deren Sekretär wurde. Philippe Schwab war zudem Sekretär einer wichtigen Untersuchungskommission zur Aufarbeitung des Debakels rund um die Pensionskasse des Bundes. Er präsidiert die Vereinigung der Generalsekretäre der Parlamente (ASGP) und die Stiftung «Wissenschaftliche Politikstipendien» und ist Mitglied der Vereinigung der Generalsekretäre der frankophonen Parlamente (ASGPF). Er gilt als Experte für Parlamentsfragen.

Philippe Schwab

Herr Generalsekretär, was macht eine Sondersession so besonders?

Der Name ist unglücklich gewählt. Die Sondersession ist eigentlich nur eine zeitversetzte Verlängerung der ordentlichen Session. Das Parlament tritt viermal pro Jahr zu einer dreiwöchigen Session zusammen. Die Ratsbüros legen auf der Grundlage der Listen der beratungsreifen Geschäfte, die von den vorberatenden Kommissionen erstellt werden, die Programme fest. Die Büros können eine Sondersession einberufen, um den Räten zusätzliche Verhandlungstage einzuräumen, wenn die Räte bei der Beratung der Geschäfte in Verzug geraten. Die Daten der Sessionen werden zwei Jahre im Voraus geplant. Die Sondersession ist somit eine Art Joker, der gezogen werden kann, falls es die aktuelle Arbeitslast erfordert.

Im Jahr 2020 wurde für den Nationalrat eine Sondersession im Oktober angesetzt – als Ersatz für die dritte Woche der Frühjahrssession, die pandemiebedingt abgesagt werden musste. An den ursprünglich für die Sondersession vorgemerkten Daten im Mai fand schliesslich die ausserordentliche Session zur Verabschiedung der dringlichen Covid-19-Kredite und Gesetzesentwürfe statt.

Drei Tage sind wenig…

Die Büros müssen darauf achten, die Dauer der Sondersessionen entsprechend der Anzahl hängiger parlamentarischer Geschäfte festzulegen. Die Ratsmitglieder sind nämlich nicht alle Berufspolitikerinnen und politiker und haben noch andere Verpflichtungen. Sie sind überzeugte Anhängerinnen und Anhänger des Milizsystems. Bisweilen kommt es vor, dass die Sessionsprogramme mit dem Jagdkalender kollidieren … Allerdings lässt sich die Beratungszeit nicht beliebig verdichten.

Ist die Einberufung der Sondersession also ein Vorrecht der Büros?

Die Einberufung einer Sondersession ist Aufgabe der Büros – unter Vorbehalt eines entsprechenden Beschlusses des jeweiligen Rates. Gelegentlich setzt ein Rat eine Sondersession auch gegen den Willen des Büros durch. Im Jahr 2009, als Alain Berset Ständeratspräsident war, lehnte das Büro den Antrag der damals von Simonetta Sommaruga präsidierten Kommission für Wirtschaft und Abgaben einstimmig ab, im August eine Sondersession einzuberufen. Die kleine Kammer war mit der Beratung der Geschäfte à jour, sodass die Voraussetzungen für die Einberufung einer Sondersession nicht gegeben waren. Daraufhin reichte die Kommission zwei Ordnungsanträge ein, das Büro wurde übergangen und die Sondersession fand statt. Ein Präzedenzfall!

Der Nationalrat tritt vom 9. bis zum 11. Mai 2022 zu einer Sondersession zusammen.

Seit 1992 wurden 26 Sondersessionen einberufen, d. h. fast eine pro Jahr. Die beiden Räte haben achtmal gleichzeitig eine Sondersession durchgeführt; der Nationalrat hat siebzehnmal alleine getagt, der Ständerat nur ein einziges Mal. Arbeitet der Ständerat schneller als der Nationalrat?

Das ist effektiv so und ist der Zahl der Ratsmitglieder zuzuschreiben. In einem Rat mit 200 Mitgliedern und 11 Parteien ist das Meinungsspektrum grösser als in einem Rat mit 46 Mitgliedern. Dies führt unweigerlich zu längeren Debatten sowie zu mehr Wortmeldungen und parlamentarischen Vorstössen. Auch in der Art, wie Politik gemacht wird, gibt es grosse Unterschiede zwischen Nationalrat und Ständerat. Der Nationalrat ist oft Schauplatz hitziger politischer Auseinandersetzungen zwischen den Parteien. Der Ständerat hingegen ist eher ein Hort der Reflexion und der sachlichen Debatte und lässt sich weniger stark von den Parteiprogrammen leiten. Ich habe festgestellt, dass die Ratsmitglieder verstärkt die Anliegen und Sorgen der Menschen aufnehmen. Dies zeigt sich in der Fragestunde, die eine Besonderheit des Nationalrates ist. Wenn es also an Zeit fehlt, setzt der Nationalrat lieber auf eine «Nachholsitzung» in Form einer Sondersession.

Sind die Sondersessionen ein Anzeichen dafür, dass das Milizsystem an seine Grenzen stösst?

Für mich gibt es keinen Kausalzusammenhang zwischen den Sondersessionen und dem Milizsystem. Die Bundesversammlung ist aktuell eine Mischung von Berufs- und Milizparlament. Unbestritten jedoch ist, dass sich das Tempo der parlamentarischen Arbeit beschleunigt hat. Die Zahl der Geschäfte hat zugenommen und die Dossiers sind komplexer und technischer geworden. Die Ratsmitglieder reichen fleissig Vorstösse ein, weshalb das Büro des Nationalrates die Urheberinnen und Urheber der Vorstösse häufig auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertrösten muss: Von den tausend jeweils beratungsreifen Vorstössen können nur wenige rechtzeitig behandelt werden. Viele werden nach der gesetzlichen Frist von zwei Jahren ohne Beschluss abgeschrieben. Diese Situation ist nicht zufriedenstellend und es ist nicht möglich, noch mehr Sondersessionen durchzuführen. Würde jeder Vorstoss nur zehn Minuten beraten, wären ungefähr 20 Sessionstage – Tag und Nacht – erforderlich, um den ganzen Stapel an Vorstössen abzutragen.

Alle Vorschläge zur Eindämmung der Vorstossflut – eine mengenmässige Beschränkung der Vorstösse, eine Verkürzung der Redezeit oder eine Hierarchisierung der Beratungsgegenstände – haben die Ratsmitglieder bisher abgelehnt.

Link zum Programm der Sondersession Mai 2022


Sondersession ist nicht gleich ausserordentliche Session

Das Programm einer Sondersession umfasst Geschäfte, die in der vorgängigen ordentlichen Session aus Zeitmangel nicht behandelt werden konnten. Kein Geschäft und kein Thema sticht hervor. Eine ausserordentliche Session hingegen wird einberufen, um ein gewichtiges – und dringliches – Thema zu beraten. So wurden ausserordentliche Sessionen zur Migration, zu den Beziehungen der Schweiz zur EU, zur kalten Progression oder zur Covid-19-Pandemie durchgeführt.

Die Einberufung einer ausserordentlichen Session können die Ratsmitglieder – mindestens ein Viertel der Mitglieder eines Rates – oder der Bundesrat verlangen. Die Session findet in beiden Räten gleichzeitig statt.

«Die Parteien stellen häufig eine ausserordentliche Session in den Raum, wenn ein kontroverses Thema hohe Wellen schlägt. Allerdings kann eine ausserordentliche Session nur dann durchgeführt werden, wenn in den Räten eine gleichlautende Motion, eine Erklärung oder ein Entwurf des Bundesrates oder einer Kommission – kurz: ein eindeutig identifizierter parlamentarischer Beratungsgegenstand – hängig ist», erklärt Philippe Schwab lächelnd. Bis zum Inkrafttreten der letzten Revision der Bundesverfassung konnten fünf Kantone, nicht aber der Ständerat, die Einberufung einer ausserordentlichen Session verlangen. Heute haben die Mitglieder der kleinen Kammer, welche die Kantone vertreten, diese Kompetenz.