Als «sister republics» werden die USA und die Schweiz oft bezeichnet. Dies mag angesichts der offensichtlich bestehenden Unterschiede zwischen den beiden Ländern erstaunen. Die ersten drei Artikel ihrer Bundesverfassungen offenbaren indes die tiefe verfassungsrechtliche Verbundenheit der zwei ersten republikanischen Bundesstaaten der Welt. Der 12. September gibt alljährlich Anlass, sich diese gemeinsamen Werte in Erinnerung zu rufen.

Wer etwas Wichtiges mit Nachdruck festhalten will, bringt die Sache direkt auf den Punkt. So hat es auch der Verfassungsgeber der Schweiz gemacht, indem er in Artikel 1 der Bundesverfassung festhält: «Das Schweizervolk und die Kantone […] bilden die Schweizerische Eidgenossenschaft.»  Damit stellt sich der Verfassungsgeber gleich zu Beginn der Bundesverfassung selbst vor: Nicht das Parlament, sondern das Volk und die Gliedstaaten haben hier das Sagen. In der Präambel der «United States Constitution» ist Ähnliches zu lesen: «We the People of the United States […]  do ordain and establish this Constitution for the United States of America.»

In der Verfassungsgeschichte der beiden Länder gibt es weitere Parallelen, die nicht auf Zufälle, sondern auf einen «atlantischen Kreislauf moderner Staatsideen» (Alfred Kölz, 1944–2003) zurückzuführen sind. Dabei fielen in keinem anderen Land die neuen Ideen aus Amerika auf einen so fruchtbaren Boden wie in der Schweiz, weshalb die beiden Nationen noch heute als «sister republics» bezeichnet werden.

Um den amerikanischen Einfluss auf die Schweiz besser einordnen zu können, ist es wichtig, sich der Verfassungsgeschichte bewusst zu sein. In aller Kürze: Das Schweizervolk und die Kantone gaben sich am 12. September 1848 mit der Bundesverfassung zum ersten Mal selbst ein Grundgesetz. Damit wurde Mitte des 19. Jahrhunderts inmitten europäischer Monarchien eine demokratisch-republikanische Insel geschaffen. Da das im Sonderbundkrieg unterlegene katholisch-konservative Lager zentralen Verfassungsnormen ablehnend gegenüberstand, kam es bereits 26 Jahre später zu einer ersten Totalrevision: Die Bundesverfassung von 1874 führte zu einer politischen Entspannung und bildete bis ins Jahr 1999 den verfassungsrechtlichen Rahmen der Schweiz. In diesen 125 Jahren führten allerdings die zahlreichen Teilrevisionen zu einem unübersichtlichen Flickenteppich, was die zweite Totalrevision rechtfertigte. Da es sich dabei um eine formelle Nachführung des vorbestehenden Rechts handelte, hat sich die Rechtslage durch diese zweite Totalrevision inhaltlich praktisch nicht verändert. Unsere heutige Verfassung basiert nach wie vor auf den Grundfesten der beiden Totalrevisionen, die ihrerseits einem grossen amerikanischen Einfluss ausgesetzt waren. Wie gross dieser Einfluss war, zeigt sich schon im übernächsten Artikel der ersten Bundesverfassung:

Artikel 3 der Bundesverfassung von 1848

«Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist, und üben als solche alle Rechte aus, welche nicht der Bundesgewalt übertragen sind.»

Artikel 2 der amerikanischen Konföderationsartikel von 1777

«Each state retains its sovereignty, freedom, and independence, and every power, jurisdiction, and right, which is not by this Confederation expressly delegated to the United States, in Congress assembled.»


Zentrales, identitätsstiftendes Wort ist die «Souveränität». In der Rechtswissenschaft versteht man darunter ein ausschliessliches Selbstbestimmungsrecht. Wie kann man aber ausschliesslich über sich selbst bestimmen, wenn ein anderer mitbestimmt? Ein Gliedstaat kann gar nicht souverän sein, weil Souveränität per definitionem nicht teilbar ist. Dessen ungeachtet hielt man es bis heute nicht für nötig, Artikel 3 der Bundesverfassung dogmatisch nachzubessern, und nichtsdestotrotz bezeichnen sich die amerikanischen Gliedstaaten noch heute als «States».

Doch letztlich ist es genau dieser Widerspruch, der den Föderalismus ausmacht. Als es den kolonialisierten Amerikanern endlich gelang, sich durch einen verlustreichen Krieg von den Briten abzunabeln, wollten die freiheitshungrigen Menschen zuerst keine Obrigkeit anerkennen, die irgendwo, weit weg, bestimmte. Sie wollten sich selbst regieren und ihre Steuern nur einer lokal verwurzelten Regierung entrichten. Was daraus entstand, war ein Staatenbund. Doch dieser war so lose, dass den Konföderationsorganen nicht einmal die geschuldeten Beiträge bezahlt wurden. Auch ein gemeinsames Verteidigungsbudget fehlte somit, weshalb ein erneuter Einfall europäischer Mächte drohte. An diesem Punkt kamen die «Federalist Papers» ins Spiel. Drei engagierte Politiker stellten ein viel beachtetes Argumentarium zusammen, um die Bürger des damals besonders wichtigen Staates New York zu überzeugen, der föderalen Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zuzustimmen. Mit Erfolg: Man erkannte, dass man die Freiheit gegen aussen nur verteidigen und Einigkeit im Innern nur finden kann, wenn die souveränen Staaten einen Teil ihrer «Souveränität» an eine Zentralregierung abtreten.

Mit der Gründung des amerikanischen Bundesstaates als föderale Republik ist der weltweit erste Bundesstaat nach heutigem Verständnis geboren. Dass es so lange brauchte, bis man den Wert dieser Staatsform erkannte, ist kein Zufall: Wenn die Demokratie die mühsamste aller Staatsformen ist, dann ist die föderale Demokratie die allermühsamste. Was für die Demokratie das ständige Streben nach einem mehrheitsfähigen Kompromiss bedeutet, ist für den Föderalismus das ständige Spannungsverhältnis zwischen Zentralstaat und Gliedstaat. Man könnte in diesem Zusammenhang auch von der Notwendigkeit eines ständig neu verhandelten Kompromisses in horizontaler und vertikaler Hinsicht sprechen.

Die Tatsache, dass die USA zur grössten Weltmacht der Moderne geworden sind, dürfte massgeblich auf die zitierten Verfassungsbestimmungen bzw. das dadurch gelebte Staatsverständnis zurückzuführen sein: Politische Stabilität mit einem aufgeklärten Bürgertum ist bei einem Grossstaat der Fläche der USA langfristig einfacher zu erreichen, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger mit dem Staat identifizieren können. Identifikation setzt Mitbestimmungsrecht auf einer für den Bürger überschaubaren Ebene voraus. Während dem Staatenbund bei externen Bedrohungen oftmals die Zeit fehlt, sich zentral zu organisieren, fehlt dem Zentralstaat in vielen Fragen der Zugang zu den Menschen und damit der politische Support in Krisenzeiten. Der Bundesstaat hingegen schafft ein flexibles System von Gemeinwesen unterschiedlicher Hierarchien, das sich verhältnismässig leicht veränderten Umständen anzupassen vermag: Es gibt sowohl zentralistische wie auch föderale Regierungseinheiten, die je nach Bedarf relativ flexibel zusätzliche Aufgaben übernehmen oder angestammte Aufgaben abgeben können.

Die ersten drei Bestimmungen der Schweizerischen Bundesverfassung entstammen nicht nur amerikanischen Ideen, sondern entsprechen an entscheidenden Stellen einer fast wörtlichen Übersetzung aus amerikanischen Verfassungstexten. Die Gründungsväter der Schweiz hatten angesichts der sprachlichen, kulturellen, gesellschaftlich-geografischen und – damals besonders entscheidend – konfessionellen Unterschiede rückblickend gar keine andere Wahl, als dieses mühsame Konsenssystem in horizontaler und vertikaler Hinsicht zu wählen.