Landauf, landab werben die Parteien zur Zeit um die Gunst der Wählerinnen und Wähler. Die Steigerung des Wähleranteils ist dabei höchstes Ziel der Parteiexponenten. Wieweit fühlen sich aber die gewählten Vertreter und Vertreterinnen im Parlament an die offizielle Haltung ihrer Fraktion gebunden? Eine neuste Studie zur Fraktionsgeschlossenheit im Nationalrat zeigt, dass die Fraktionsgeschlossenheit seit 1996 insgesamt nur leicht anstieg. Trotz parteipolitischer Polarisierung ist der Nationalrat daher von einem Parlament mit disziplinierten Fraktionen weit entfernt.

Die im Auftrag der Parlamentsdienste vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern durchgeführte Studie untersucht die Fraktionsgeschlossenheit im Nationalrat der Periode November 1996 bis Oktober 2005. Im Unterschied zu früheren Studien wurden sämtliche Abstimmungen (namentliche wie nicht-namentliche) als Datengrundlage verwendet.

Gemessen wurde die Geschlossenheit der Fraktionen mit dem so genannten Agreement-Index, wobei dieser Index den Wert 0 hat, wenn in der Fraktion absolute Uneinigkeit herrscht, d.h. die gleiche Anzahl Ja-, Nein- und Enthaltungsstimmen vorliegt. Weist der Index den Wert 1 auf, haben alle Fraktionsmitglieder gleich gestimmt.

Die Untersuchung zeigt, dass auch im schweizerischen Parlament die Fraktionen bei den Entscheidungen eine zentrale Rolle spielen, weisen doch die SP- und die SVP-Fraktion im Untersuchungszeitraum 2003-2005 einen Index von über 0,9 auf. Allerdings bieten die institutionellen Voraussetzungen der Schweizerischen Bundesversammlung bedeutend mehr Raum für fraktionsunabhängiges Abstimmungsverhalten als dies in anderen Parlamenten der Fall ist. Unbedingte Parteidisziplin wird von den Fraktions- und Parteiführungen sicher gewünscht, kann aber lange nicht immer durchgesetzt werden. So wiesen die beiden Mitteparteien CVP und FDP in der Periode 2003-2005 tiefere Werte als die beiden grossen Parteien auf, nämlich zwischen 0,82 und 0,85. Ein Grund dafür liegt wohl darin, dass das Bestehen der Regierung im schweizerischen System nicht von der Unterstützung durch die Parlamentsmehrheit abhängig ist.

Über die Zeit betrachtet sind die Werte für die Fraktionsgeschlossenheit im Nationalrat sehr stabil. So weisen bereits frühere Studien, welche allerdings nur auf Namensabstimmungen beruhten und Enthaltungen nicht miteinbezogen, durchgehend höhere Werte für die SP- und die SVP-Fraktion auf als für die Mitteparteien. Die vorliegende Studie konnte zwar seit 1996 eine leichte Zunahme der Fraktionsgeschlossenheit nachweisen, jedoch nicht für alle Fraktionen: Die Werte der CVP waren leicht sinkend. Die Studie gibt somit einen Hinweis auf die Stabilität des schweizerischen politischen Systems, in dem das einzelne Parlamentsmitglied seinen Handlungsspielraum wahrnimmt.

So kann es durchaus vorkommen, dass ein Parlamentsmitglied bei einem Entscheid seine Herkunft oder die Zugehörigkeit zu einer Interessengruppe stärker gewichtet als seine Fraktionszugehörigkeit. Die vorliegende Untersuchung weist denn auch für einzelne Politikbereiche relativ hohe Geschlossenheit regionaler Gruppen oder Interessengruppen nach. Regionale Geschlossenheit zeigt sich zum Beispiel häufig dann, wenn verkehrspolitische Vorlagen oder Vorlagen in den Bereichen Kultur und Religion zur Abstimmung stehen. Insgesamt ist allerdings festzuhalten, dass die Zugehörigkeit zur Parteifraktion das Stimmverhalten weitaus stärker bestimmt als alle anderen Faktoren.

Die Studie kann bezogen werden bei:

http://www.parlament.ch/ed-pa-fraktionsgeschlossenheit-nr-1996-2005.pdf

Bern, 18.10.2007    Parlamentsdienste