Am zweiten «Tag der parlamentarischen Aussenpolitik», der am 8. September 2022 stattfand, befassten sich rund 40 Mitglieder des National- und Ständerates mit dem Neutralitätsrecht und der Neutralitätspolitik. Bei den Teilnehmenden handelte es sich dementsprechend um Mitglieder der Aussenpolitischen Kommissionen (APK), der Delegationen bei den internationalen parlamentarischen Versammlungen, der Delegationen für die Beziehungen mit den Parlamenten der Nachbarländer und der Staatspolitischen Kommissionen.

Zweck dieses Anlasses, der von den Präsidenten der beiden APK, Nationalrat Franz Grüter (SVP, LU) und Ständerat Pirmin Bischof (Die Mitte, SO), geleitet wurde, war es, die Koordination und den Austausch zu fördern zwischen den verschiedenen Parlamentsorganen, die sich mit aussenpolitischen Themen befassen. Diskutiert wurde über die möglichen Formen der Zusammenarbeit zwischen neutralen Staaten und der Organisation des Nordatlantikvertrags (Nato), über die Sanktionspolitik neutraler Staaten und über die Vereinbarkeit von Neutralität und Kriegsmaterialexporten.

Im Mittelpunkt des ersten Teils der Veranstaltung standen die Erfahrungen von Österreich und Finnland, zwei anderen neutralen europäischen Ländern, und deren Umgang mit den aktuellen Herausforderungen wie dem Angriff Russlands auf die Ukraine. Ein Experte aus Österreich und eine Expertin aus Finnland informierten die Ratsmitglieder über die Entwicklungen und die Besonderheiten des österreichischen bzw. des finnischen Neutralitätsmodells.

  • Peter Hilpold, Professor für Völkerrecht, Europarecht und vergleichendes Öffentliches Recht an der Universität Innsbruck, präsentierte die Grundlagen des österreichischen Neutralitätsmodells und verglich dieses mit dem Schweizer Modell. Er beschrieb die verschiedenen Entwicklungsphasen der österreichischen Neutralität und die Auswirkungen, die namentlich der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union (EU) hatte. Er ging zudem darauf ein, welche Folgen es für die österreichische Neutralität hat, dass Österreich im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg Sanktionen gegen Russland verhängt hat.
  • Johanna Rainio-Niemi, Professorin für Politikgeschichte an der Universität Helsinki, erläuterte, was die finnische Neutralität auszeichnet und wie diese Finnland ein Gesicht auf der internationalen Bühne verliehen hat. Sie erklärte, dass die finnische Neutralität ein vom Kalten Krieg geprägter politischer Entscheid ist und sich abhängig von den Beziehungen Finnlands zum russischen Nachbarn weiterentwickelt. Sie hielt fest, dass das Schweizer Neutralitätsmodell eine grosse Rolle für die Neutralitätspolitik Finnlands gespielt hat, diese mit dem EU-Beitritt aber definitiv aufgegeben wurde. Sie bezeichnete die Neutralität als pluralistisch und demzufolge inkohärent.

Der zweite Themenblock war der Schweizer Neutralität und deren historischen und rechtlichen Grundlagen gewidmet. Ziel war es, die Raison d’être der Neutralität und deren Hintergründe nachvollziehen zu können.

  • Matthieu Gillabert, Professor für zeitgenössische Geschichte an der Universität Freiburg, präsentierte zunächst die verschiedenen Etappen der Schweizer Neutralität und die Art und Weise, wie diese insbesondere von den beiden Weltkriegen und dem Kalten Krieg geprägt wurde. Er betonte, dass Konflikte bei der Entwicklung der Schweizer Neutralität stets eine grosse Rolle gespielt haben. Zudem verwies er auf die grosse Anpassungsfähigkeit der Neutralitätspolitik und auf deren identitätsstiftende und imageprägende Bedeutung. Ebenfalls thematisiert wurden die unterschiedlichen Auffassungen und Auslegungen der Neutralität.
  • Marco Sassòli, Professor für Völkerrecht an der Universität Genf, erläuterte den Unterschied zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik sowie die Pflichten, die sich bei einer Verletzung des Völkerrechts und namentlich beim Einsatz von militärischer Gewalt aus dem Neutralitätsrecht ergeben. Er thematisierte auch die Frage nach der Notwendigkeit der Schweizer Neutralität. Er verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass Frieden und Neutralität eng verknüpft sind und die Aufgabe der Neutralität unmittelbare Folgen für die Positionierung der Schweiz in künftigen Konflikten hätte.

Der seit Monaten geplante Anlass fand am Tag nach einer Bundesratssitzung statt, an welcher der Bundesrat Beschlüsse zur Neutralitäts- und Sicherheitspolitik fasste.


08.09.2022

v.l.n.r.: Franz Grüter ( Präsident APK-N), Marco Sassòli, Peter Hilpold, Matthieu Gillabert, Johanna Rainio-Niemi, Pirmin Bischof (Präsident APK-S)

v.l.n.r.: Franz Grüter ( Präsident APK-N), Marco Sassòli, Peter Hilpold, Matthieu Gillabert, Johanna Rainio-Niemi, Pirmin Bischof (Präsident APK-S)