Die Rehabilitierungskommission der Bundesversammlung hat am 28. Mai 2004 über 27 Feststellungsbegehren entschieden. Sie hat sämtlichen Gesuchen einstimmig stattgegeben. Weiter hat sie beschlossen, im Bundesarchiv gezielt nach Urteilen zu suchen, deren Aufhebung festgestellt werden kann.

Das Bundesgesetz vom 20. Juni 2003 über die Aufhebung von Strafurteilen gegen Flüchtlingshelfer, das am 1. Januar 2004 in Kraft getreten ist, rehabilitiert die Flüchtlingshelfer und hebt alle Strafurteile auf, mit welchen Personen verurteilt worden sind, weil sie verfolgten Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus zur Flucht verhalfen. Ergänzend prüft die Rehabilitierungskommission der Bundesversammlung auf Gesuch hin oder von Amtes wegen, ob ein konkretes Strafurteil vom generellen Aufhebungsbeschluss erfasst ist und stellt dies per Verfügung fest.

Gesuche können von der wegen Fluchthilfe verurteilten Person beziehungsweise nach deren Tod von einer oder einem Angehörigen oder von schweizerischen Organisationen, die sich dem Schutz der Menschenrechte oder der Aufarbeitung der schweizerischen Geschichte zur Zeit des Nationalsozialismus widmen, gestellt werden. Das vom Gesetz einfach gestaltete Verfahren ist kostenlos.

Die Kommission befasste sich zunächst mit der Frage, inwiefern historische Untersuchungen unternommen werden können, um einen grossen Teil der damaligen Verurteilungen ausfindig zu machen, welche durch das Gesetz aufgehoben worden sind. Sie hat beschlossen, im Bundesarchiv und insbesondere in den Archiven der militärischen Territorialgerichte, die ab Ende 1940 Verurteilungen wegen Fluchthilfe aussprachen, historische Untersuchungen vorzunehmen.

Die Kommission prüfte darauf das durch die Witwe und den Sohn des verstorbenen Ernest Wittwer am 19. Januar 2004 gestellte Gesuch. Herr Wittwer, Schweizer Staatsangehöriger, hat in der Nacht vom 26. auf den 27. Mai 1944 zwei jüdische Kinder, die er von Frankreich nach Basel bringen sollte, über die Grenze in die Schweiz geführt. Am 31. Mai 1944 wurde er wegen Widerhandlung gegen die Bundesratsbeschlüsse vom 13. Dezember 1940 und vom 25. September 1942 betreffend die teilweise Grenzschliessung zu 60 Tagen Gefängnis verurteilt. Die Kommission stellte einstimmig fest, dass das gegen Herrn Wittwer wegen Fluchthilfe zur Zeit des Nationalsozialismus ausgesprochene Strafurteil durch das Gesetz aufgehoben ist. Ernest Wittwer ist also mit Inkrafttreten dieses Gesetzes am 1. Januar 2004 vollständig rehabilitiert worden.

Schliesslich behandelte die Kommission das am 9. Januar 2004 durch die Paul Grüninger Stiftung in St. Gallen als legitimierte Organisation gestellte Gesuch um Feststellung der Aufhebung von Strafurteilen in 26 belegten Fällen von neun Schweizern, vierzehn Franzosen, einem Italiener und einem Tschechen, sowie von einem damals Staatenlosen.

Alle verurteilten Personen hatten zwischen 1938 und 1944 als Einzelpersonen oder als Mitglieder von Helfergruppen flüchtenden Personen dabei geholfen, vom Ausland in die Schweiz zu gelangen, um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entkommen. Sie wurden damals für diese Handlungen in vier Fällen (im Jahr 1938) durch zivile, in 23 Fällen (in den Jahren 1942 bis 1944) durch Militärgerichte verurteilt. Die damals ausgesprochenen Strafen lauten auf Bussen zwischen 20.- und 100.- Franken, auf Gefängnis zwischen 14 und 150 Tagen, in wenigen Fällen auf Gefängnis und Busse. In drei Fällen wurde eine bedingte Gefängnisstrafe ausgesprochen.

Als Straftatbestände lagen den Urteilen zugrunde: Verstoss gegen die Bestimmungen des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer, Verstoss gegen die Bestimmungen der Bundesratsbeschlüsse vom 13. Dezember 1940 und vom 25. September 1942 betreffend die teilweise Schliessung der Grenze, Verfälschung von Ausweispapieren oder Grenzpassierscheinen sowie Missbrauch von solchen oder Dienstverletzung.

Fest steht, dass in den meisten Fällen aus humanitären Gründen und aus Mitleid mit den Flüchtlingen gehandelt wurde. In einem Fall geriet eine dem Fluchthelfer nahe verwandte Person (die Mutter eines Verurteilten) bei der Flucht in die Hände der deutschen Grenzwächter und soll sich darauf im Gefängnis das Leben genommen haben. Für die eingegangenen Risiken und die entstandenen Spesen erhielten die Fluchthelfer in den meisten Fällen ein oft bescheidenes Entgelt. Gewisse Summen wurden von den Flüchtlingen selber bestimmt und angeboten.

Einstimmig hat die Rehabilitierungskommission festgestellt, dass die damals ausgesprochenen Urteile gegen die 26 Verurteilten aufgehoben und diese Personen rehabilitiert worden sind.

Folgende Personen wurden am 1. Januar 2004 vollständig rehabilitiert: Joseph Charlet, Bernard Cretton, Carlo Crivelli, Roger Pasteur, Albert Pillet, André Pillet, Marcel Fert, François Grand-Jux, René Mermet, Albert Mercier, Lucien-Jules Merguin, Oskar Gablinger, Heinz Hammerschlag, Hermann Hutmacher, Wilhelm (Willy) Hutter, Hermann Kühnis, André Moret, Urbain Ruffin, Felix Sigismondi, Jakob Spirig, Johann Spirig, Philipp Spirig, Adolf Studer, Pierre Vaucher, Hans Weder und Edmond Weinberger.

Die Gründe, weshalb diese Personen verurteilt wurden, und die entsprechenden Gerichtsentscheide sind auf der Internetseite der Kommission unter folgender Adresse zu finden: http://www.parlament.ch/mm-01-06-2004-rehako-beilage.pdf

Die Feststellungsentscheide über die Rehabilitierung werden demnächst auf der Internetseite der Kommission ( http://www.parlament.ch/homepage/ko-weitere-kommissionen/ko-rehab.htm) abrufbar sein.

Die Kommission tagte am 28. Mai 2004 unter dem Vorsitz von Ständerätin Françoise Saudan (GE/R) in Bern.

Bern, 01.06.2004    Parlamentsdienste