Wenn man mit der Marzilibahn hochfährt und danach über die Bundesterrasse Richtung Bundesgasse geht, so sieht man rechts in der Fassade des Bundeshaus West fünf grosse, hohe Rundbogenfenster. Für einfache Büros der Bundesverwaltung ist dies eine eher ungewöhnliche Architektur. Welche Geschichte verbringt sich wohl hinter diesen auffälligen Fenstern?

​Die Entstehungsgeschichte des Bundeshaus West

Das unter Denkmalschutz stehende Bundeshaus ist ein aus drei Bauten zusammengewachsener, symmetrischer Gebäudekomplex. Er besteht aus dem Bundeshaus West, dem Bundeshaus Ost und dem bekannten Parlamentsgebäude mit der grün oxydierten Kuppel. Als erstes wurde 1852-1857 das heutige Bundeshaus West (damals «Bundes-Rathaus» genannt) erbaut, danach kam 1888-1892 das Bundeshaus Ost, und zum Schluss 1894-1902 wurde das eigentliche Parlamentsgebäude fertiggestellt. Das heutige Bundeshaus West ist der älteste Bau dieses dreiteiligen Gebäudekomplexes.

Am 28. November 1848 entschied sich die Bundesversammlung im ersten Durchgang für Bern als Bundesstadt und Sitz der Bundesbehörden (siehe Blogbeitrag «A la ville fédérale, il faut un palais»). Für die zentrale Unterbringung von Regierung, Parlament und Bundesverwaltung gab es damals in Bern aber noch kein geeignetes Gebäude, weshalb zuerst provisorische Lösungen innerhalb der Stadt Bern gefunden werden mussten. Dem Bundesrat wurde der «Erlacherhof» an der Junkerngasse zur Verfügung gestellt, der Nationalrat versammelte sich im 1821 erbauten «Casino» und bei Bedarf im «Berner Rathaus», der Ständerat wiederum tagte im «Rathaus zum Äusseren Stand» an der Zeughausgasse.

 

Rathaus zum äusseren Stand, ca. 1890. Von 1848 bis 1857 beherbergte es den Ständerat. Quelle: Burgerbibliothek, Bern

Im Februar 1849 erhielten die Stadtbehörden von Bern vom Bundesrat den Auftrag, einen geeigneten Standort für ein zentrales Gebäude ausfindig zu machen. Dieses sollte die Säle beider Parlamentskammern, Räume für den Bundesrat, 96 Büros und die Wohnung des Bundeskanzlers umfassen. Aus mehreren Vorschlägen entschied sich der Bundesrat für das Areal des städtischen Holzwerkhofes neben dem damaligen Casino, am südwestlichen Rand der Altstadt und an der Oberkante des Abhangs zur Aare und dem Marziliquartier gelegen. Der Gemeinderat schrieb am 8. April 1850 einen Architektenwettbewerb für das «Bundes-Rathaus» aus.

Die Jury war mit den eingegebenen Projekten nicht wirklich zufrieden und beauftragte deshalb den bis dahin kaum bekannten Berner Architekten Friedrich Studer (der nicht an diesem Wettbewerb teilgenommen hatte), die Vorzüge der Siegerprojekte von Ferdinand Stadler und Felix Wilhelm Kubli in einem Bauprojekt zu vereinen.

Bei seiner Einweihung am 5. Juni 1857 war das Bundes-Rathaus, wie das Bundeshaus West damals hiess, das wichtigste Gebäude der damals knapp zehnjährigen, modernen Eidgenossenschaft. Das einzige Bundesgebäude beherbergte sowohl den Bundesrat als auch beide Kammern des Parlaments und die gesamte Bundesverwaltung. 

 

Bern vom Christoffelturm, Foto: Adolphe Braun

Der erste Nationalratssaal im Bundeshaus West

Ganz im Westen des neu errichteten Bundeshaus West wurde der damalige Nationalratssaal gebaut - also genau hinter den fünf grossen Rundbogenfenstern.

Die Ausmalung des Nationalratssaals im Bundes-Rathaus wurde durch August und Ludwig Hövemeyer 1856-1858 ausgeführt. Es existieren leider keine Fotografien von den Sälen, nur einige wenige grafische Darstellungen. Ein Bericht aus dem «Journal de Genève» vom 8. Juli 1858 über die Eröffnung der Session gibt uns jedoch eine recht genaue Beschreibung:

«Der Nationalratssaal war durch fünf grosse Rundbogenfenster zur Aussenwelt hin geöffnet. Das Mobiliar war aus Mahagoni angefertigt. Gegenüber den Fenstern standen die schweren, grün bezogenen Stühle des Präsidenten, des Vizepräsidenten, des Kanzlers und der Übersetzer. Die Räte sassen in sechs halbkreisförmigen Reihen, die durch fünf Gänge unterbrochen waren. Den Wänden entlang lief eine Bank, auf der die Ständeräte in der Vereinigten Bundesversammlung Platz nahmen. Auch die Wände waren dunkelgrün. Beide Seiten des Saales wurden durch Galerien, die von je vier ionischen Säulen aus gelbem Marmor gehalten wurden, gesäumt. Ein grosser Leuchter mit Kristallbehang erhellte den Saal. Die Rückseite hinter dem Präsidenten und die Rückwände der Galerien wurden durch gemalte Arkadenreihen geschmückt, die mit je drei, in Grisaillentechnik gemalten, Reliefs imitierenden allegorischen Frauenfiguren verziert waren.»

Im Innern des Gebäudes sind in der Nähe der grossen Rundbogenfenster wenige Reste dieser Bemalung noch heute sichtbar.

Am 5. Juli 1858 tagten die eidgenössischen Räte zum ersten Mal im neuen Nationalratsaal. Der damalige Nationalratspräsident Augustin Keller aus dem Kanton Aargau hielt an diesem Tag mit seiner Eröffnungsrede die erste offizielle Ansprache in diesem Raum.

Die Nationalräte sprachen damals noch von ihren Plätzen aus; ein Rednerpult wurde erst 1939 im 1902 neu errichteten Parlamentsgebäude eingebaut.

 

 

Vom Nationalratssaal zur Bibliothek

Nachdem National- und Ständerat 1902 in das neu erstellte Parlamentsgebäude umgezogen waren, wurde ab Juni 1902 der alte Nationalratssaal zu einer Seite hin verkleinert (heute sind dort Büros des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten EDA untergebracht) und mit einer Eisenkonstruktion mit Treppen und Umgängen zur «Canzleibibliothek» umgebaut. Diese wurde von der Firma Rud. Preiswerk & Esser, Eisenbau-Werkstätte und Kunstschmiede in Basel, angefertigt.

Diese Bibliothek gehörte damals – trotz der Bezeichnung «Canzleibibliothek» – zum Eidgenössischen Departement des Innern (EDI). In den 1950er Jahren wurde unter der Ägide von Bundesrat Philipp Etter im Rahmen dieser Bibliothek eine der ganzen Bundesverwaltung dienende Rechts- und Verwaltungsbibliothek geschaffen – sämtliche Belletristik-Bände sollen damals weggebracht worden sein.
1968 wurde die «Canzleibibliothek» zur «Eidgenössischen Parlaments- und Zentralbibliothek» (EPZB) umbenannt und der Bundeskanzlei unterstellt.

Mit der Verwaltungsreform zur Parlamentsbibliothek

Im Zuge der Verwaltungsreform 2005-2007 wurden die ersten Schritte hin zur Bibliotheksfusion beschlossen. Die drei damals im Bundeshaus ansässigen Bibliotheken (die Bibliothek des Dokumentationsdienstes der Parlamentsdienste, die Bibliothek des EDA sowie grosse Bestände der bereits erwähnten EPZB) wurden unter der Schirmherrschaft der Parlamentsdienste zur heutigen Parlamentsbibliothek zusammengeführt.

Im Mai 2010 nahm die Parlamentsbibliothek in heutiger Form ihren Betrieb auf. Mit der Sanierung des Raumes wurde der Bücherbestand reduziert und die Eisenkonstruktion der Firma Rud. Preiswerk & Esser sanft restauriert. Die hölzernen Regale wurden ersetzt. Die jetzt hellere, lindengrüne Eisenkonstruktion präsentiert sich mit mehr Licht, und das Eingangsgeschoss der Bibliothek ist nun ein durchgängiger Raum. Die neue, rote Tapete im ganzen Raum setzt einen weiteren farblichen Akzent. Die fünf hohen Rundbogenfenster wurden durch neue Eichenfenster ersetzt, die den Charakter des ursprünglichen Nationalratssaales wiederaufnehmen.

 

 

Quellen

  • Bilfinger Monica; «Das Bundeshaus in Bern»; Schweizerischer Kunstführer GSK; Bern; 2009
  • Hättenschwiler Diego, Lechner Matthieu Und Meekel Norman; «Bundeshaus West – vom Nationalratssaal zur Parlamentsbibliothek»; Parlamentsbibliothek, Parlamentsdienste; Bern; 2017
  • Historisches Lexikon der Schweiz
  • https://de.wikipedia.org/wiki/Bundeshaus_(Bern)

Das heutige Ressort Parlamentsbibliothek umfasst 18,45 Vollstellen, aufgeteilt auf 24 Personen in drei Untereinheiten. Ein Teil der Mitarbeiter arbeitet noch heute im ehemaligen Nationalratssaal im Bundeshaus West.

Ihre Aufgaben umfassen u.a.:

  • Bearbeitung von Anfragen der Parlamentarierinnen und Parlamentarier zu sämtlichen politischen Themen.
  • Erstellen von Statistiken zu den parlamentarischen Verfahren.
  • Die Parlamentsbibliothek ist das Kompetenzzentrum für parlamentarische Fragen und Parlamentsgeschichte. In diesem Zusammenhang fördert und unterstützt sie auch die akademische Forschung über die Bundesversammlung und organisiert gelegentlich historische Ausstellungen und Vorträge.
  • Im Rahmen der eigentlichen bibliothekarischen Arbeit (Bücher- und Zeitschriftenmanagement) unterstützt die Parlamentsbibliothek nicht nur die Parlamentarierinnen und Parlamentarier sowie die Mitarbeiter der Parlamentsdienste, sondern auch das Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten, die Bundeskanzlei, die Generalsekretariate und Stäbe sämtlicher Departemente im Bundeshaus West sowie die Fraktionssekretariate der Parteien.

Die Parlamentsbibliothek ist aus Sicherheitsgründen nicht öffentlich zugänglich. Im Rahmen der alljährlichen Museumsnacht oder der Bundesfeier am 1. August öffnet auch die Bibliothek ihre Türen für das breite Publikum und präsentiert die Geschichte des denkmalgeschützten Raumes.

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