​Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Festgemeinde

Es ist ein gutes Gefühl, in einem Land zu leben, das nicht nur nach dem Spektakulären strebt. In einem Land, das auch den Wert des scheinbar Gewöhnlichen anerkennt. Den Wert dessen, was im Alltag das Leben ausmacht.

Deshalb bin ich heute hier, in Ihrer Gemeinde, und feiere diesen Tag mit Ihnen.

Als Nationalratspräsident hatte ich in den letzten acht Monaten das Privileg, viele gut funktionierende Gemeinden zu besuchen. Dabei habe ich viele Menschen kennengelernt, die sich – beruflich oder ehrenamtlich oder mit beidem – für das Leben in ihrer Gemeinde einsetzen. Ein solches Engagement ist keine Selbstverständlichkeit. Es ist eine Leistung. Darum will ich am heutigen Nationalfeiertag die Aufmerksamkeit auf jene richten, die in unserem Land hinter den Kulissen tätig sind. Die abseits der Scheinwerfer einen guten Job machen. Die dafür sorgen, dass die Lebensqualität hoch ist und dass bei uns so gut wie alles gut funktioniert. Die Leistung dieser Menschen wollen wir heute feiern – mit einem fröhlichen und lebendigen Fest.

Wer mich kennt, weiss: Ich bin kein Mann der grossen Worte. Deshalb habe ich heute nicht nur eine Rede mitgebracht, sondern auch vier Gegenstände, die mir wichtig sind und die für meine Botschaft an Sie stehen. Den ersten Gegenstand brauche ich Ihnen nicht zu zeigen. Sie tragen wahrscheinlich einen ganz ähnlichen an Ihrem Handgelenk. Einen Schweizer Zeitmesser.

Ich vergleiche unser Land und sein System gerne mit einer Qualitätsuhr, in der ein hochkomplexes Werk läuft. Ein Werk, in dem zahlreiche Elemente verlässlich und präzis ineinandergreifen. Unser politisches und gesellschaftliches System ist mindestens so ausgeklügelt wie ein Uhrwerk. Manchmal ist es etwas kompliziert – das merken wir, wenn wir es Besuchern aus dem Ausland erklären. Es ist Ausdruck unserer Bereitschaft, möglichst viele Akteure einzubeziehen und bei wichtigen Themen stets die Stimmbevölkerung nach ihrer Meinung zu fragen. Wir nehmen gerne in Kauf, dass auf diese Weise manches etwas länger dauert. Es hat dafür umso länger Bestand.

Auf dieses System dürfen wir stolz sein. Das sind wir, das ist die Schweiz.

Bei einer Uhr zählt nicht nur, was das Auge täglich sieht. Es zählen nicht nur Krone, Zifferblatt und Zeiger. Wichtiger ist das im Gehäuse Versteckte: das Werk, das für den Antrieb sorgt. So ist es auch in unserem Land. In Gang halten es die Menschen, die täglich ohne viel Aufhebens einer wertvollen Tätigkeit nachgehen. Die sich von Schwierigkeiten nicht so schnell beirren lassen. Die dranbleiben, geduldig und ausdauernd. Ich meine die Jungen, die in aller Frühe aus den Federn müssen; die heute eine Ausbildung absolvieren, um in Zukunft hochstehende Facharbeit zu leisten. Ich meine die Älteren, die ihre Umgebung grosszügig von ihrer Erfahrung profitieren lassen. Ich meine Alteingesessene, die mit den Feinheiten unserer Abläufe vertraut sind. Und ich meine Zugewanderte, die sich ernsthaft auf unsere Kultur einlassen.

Sie alle machen unser Land aus. Ihre tägliche Anstrengung verdient unsere Anerkennung.

Stellvertretend für sie alle spreche ich der Weibelin Chantal Schaller, die mich begleitet, meinen Dank aus. Sie wird nicht zu Ihnen reden, doch ihr Beitrag ist ebenso wichtig. Sie trägt an diesem Tag eine feierliche Uniform zu Ehren der Bundesversammlung. Aber sie selbst würde Ihnen bestimmt als Erste versichern, sie sei eine – im besten Sinn des Wortes – normale Frau, die oft einer ganz normalen Arbeit nachgeht. Und das heisst: dass sie sich jeden Tag frisch motiviert, stets die Augen offenhält, zupackt, wo es etwas zu tun gibt.

Ich danke jenen unter Ihnen, die zum Gelingen des heutigen Festes beitragen. Die arbeiten, damit wir den Tag geniessen können. Die unsere Gläser füllen. Die die Wurst auf den Grill legen und – vielleicht fast noch wichtiger – sie rechtzeitig wieder wegnehmen.

Zu meinen eigenen alltäglichen Pflichten während dieses Jahres gehört es, die Sitzungen des Nationalrates zu leiten. Damit bin ich beim zweiten Gegenstand: der Glocke. Nach ihr greife ich z. B., wenn ein Redner nicht zum Schluss kommen will. Was ich mitgebracht habe, ist allerdings nicht die Originalglocke, denn diese darf den Nationalratssaal nicht verlassen – ich selbst zum Glück schon.

Diese Glocke hier ist jedoch fast noch schöner. Langjährige Freunde haben sie mir geschenkt. Sie steht für die Zusammengehörigkeit in unserem Land: ein Unikat aus einer Glockengiesserei im Emmental, mit einem Griff aus Tessiner Kastanienholz, gedrechselt im Luzernischen Schwarzenberg. Und das alles für einen Zürcher Ratspräsidenten.

Diese Glocke werde ich in genau fünfzig Tagen läuten, um den Namen des nächsten Mitglieds des Bundesrates bekanntzugeben. Gewählt von National- und Ständerat am Mittwoch der zweiten Sessionswoche. Die Räte werden bei ihrer Wahl sicherlich auf die Bevölkerung hören. Diese will nämlich ein neues Bundesratsmitglied, das auch täglich einen guten Job macht, zum Funktionieren der Landesregierung beiträgt, das Wohl des ganzen Landes vor Augen hat, also auch die Bedürfnisse der gewöhnlichen Leute.

Als Drittes habe ich ein schwarzes Sackmesser mit rotem Schweizerwappen mitgebracht. Ein Geschenk vom Fedpol. Auch die Leute vom Fedpol tun ihre Arbeit unauffällig und im Hintergrund. Sie stellen sicher, dass der Nationalratspräsident den Bundesplatz ohne Bodyguard überqueren kann.

Auch für seine Taschenmesser ist unser Land berühmt. Kein Wunder: So ein Sackmesser ist ja auch wie die Schweiz: klein, kompakt und vielseitig. Dieses hier bietet alles, was man für ein improvisiertes Fest braucht: vom Flaschenöffner über die Klinge bis zum Zahnstocher. In den vergangenen acht Monaten ist meine Taschenmessersammlung besonders schnell gewachsen. Jedes Exemplar steht für eine besondere Begegnung. In der ganzen Sammlung steckt somit viel Geschichte.

Ich bin sicher: Sie alle haben eine Sammlung. Nicht unbedingt eine zum Anfassen, aber eine im Kopf. Eine Sammlung ganz besonderer Erinnerungen an die Schweiz. Eine Sammlung höchst persönlicher Heimatgefühle.

Heimat kann vieles sein.

Der würzige Duft einer Wurst aus der lokalen Metzgerei.
Der Blick in einen Wald auf der täglichen Fahrt zur Arbeit.
Die strahlenden Gesichter der Kollegen im Turnverein.
Der vertraute Klang einer Glocke.
Ein jährlich wiederkehrendes Fest.

Was alles zu Ihrer individuellen Sammlung gehört, wissen nur Sie. Pflegen Sie Ihre Sammlung. Erweitern Sie sie. Tauschen Sie sich darüber aus. Sie werden überrascht sein, was sich in der Kollektion anderer alles findet. Es wird Ihre Vorstellung von unserem Land bereichern. Und Ihnen bestätigen, wie viele verschiedene Seiten unser Land hat.

Als Viertes habe ich deshalb einen Gegenstand mit vielen Seiten mitgebracht. Das ist mein Geschenk an Sie. Mit kleinem materiellen Wert, aber grossem symbolischen Gehalt. Einen Würfel. Der Würfel ist ein Glückssymbol. Dieser ganz konkrete Würfel ist allerdings nicht zum Würfeln geeignet. Zumindest nicht auf einem Tisch, dessen Platte Ihnen etwas wert ist.

Er ist nämlich aus Stahl.

Glück bedeutet nicht nur, die Würfel ein weiteres Mal werfen zu können und auf gute Zahlen zu hoffen. Dazu haben wir nicht jeden Tag Gelegenheit. Glück bedeutet auch die Fähigkeit, die Dinge von verschiedenen Seiten zu sehen. Oder, in diesem konkreten Fall, die rauen und die glatten Seiten zu spüren.

Der Würfel schaut in alle Richtungen. Damit symbolisiert er auch das Talent, neue Möglichkeiten zu erkennen. Noch nicht ausgeschöpftes Potenzial. Ich sage das im Wissen, dass nicht alle ihr Potenzial im gleichen Masse realisieren können. Dass im Leben nicht alle gleich viel Glück haben. Deshalb habe ich mit der Herstellung des Würfels eine Stiftung betraut: die Stiftung Wisli in Winterthur. In der Werkstatt dort trifft man auf Menschen, die nicht immer ganz so selbstständig und fehlerfrei arbeiten, wie andernorts gefordert. Auch ihnen steht ein Platz in unserer Gesellschaft zu. Sie haben einen schönen Würfel produziert. Ganz wie ich es mir vorgestellt habe. Schon bald steht er auf Ihrem Tisch.

Als Symbol für das Glück schaut der Würfel auch in die Zukunft – selbst wenn wir noch nicht wissen, auf welcher Seite sie liegt. Wer in die Zukunft blickt, braucht Vertrauen. Ich wünsche mir deshalb eine Schweiz, die von gesundem Vertrauen geprägt ist. Auch von gesundem Selbstvertrauen und damit von Selbstverantwortung. Das ist mein Wunsch an diesem Nationalfeiertag.

Im Alltag jedoch beobachten wir an uns selbst auch immer wieder das Gegenteil: reflexhafte Übervorsicht. Dann müssen wir uns selbst an der Nase nehmen. Denn nicht jeder, der nach unserer Telefonnummer fragt, will uns Mist verkaufen. Nicht jede, die sich nach unserer E-Mail-Adresse erkundigt, will uns mit Spam überhäufen. Nicht jeder Lärm in der Umgebung rührt von einer Drohne, die uns ausspioniert.

Verstehen Sie mich richtig: Niemand soll naiv sein. Doch achten wir darauf, dass unsere bewährte Vertrauenskultur nicht einer Misstrauenskultur Platz macht, dass unsere Grosszügigkeit nicht der Missgunst weicht.

Besonders oft blickt vertrauensvoll in die Zukunft, wer Vater oder Mutter eines noch kleinen Kindes ist. Das zeigt mir Woche für Woche unsere Tochter Valérie. Sie ist jetzt zwanzig Monate alt. Wenn sie heranwächst, wird sie uns – meiner Frau Sabine und mir – viele Male vermitteln, was für sie Heimat ist. Mit Worten, mit Zeichnungen, mit einem leuchtenden Blick.
Wenn ihre Generation nicht mehr zwanzig Monate, sondern zwanzig Jahre zählt, soll sie in einem ebenso tollen Land leben dürfen wie wir heute. In einer ebenso vielfältigen, sicheren, verlässlichen Schweiz.

Für diese Qualitäten jedoch müssen wir immer wieder kämpfen. Setzen wir uns dafür ein – jeder am für ihn, jede am für sie passenden Ort. Helfen Sie mit, dass Ihr Quartier gedeiht. Ihr Verein aktiv bleibt. Ihre Gemeinde die Herausforderungen der Zukunft bewältigt. Dazu braucht es Kraft, braucht es Mut, braucht es die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Ich kann Ihnen versichern: Es lohnt sich!

Feiern wir heute also unser Land, das Grosses leisten kann, aber auch das vermeintlich Unscheinbare schätzt. Feiern wir unser Land mit seinem komplexen, aber dauerhaften System, das vielen eine Stimme gibt und die Bevölkerung mit einbezieht. Und setzen wir uns dafür ein, dass unser Land bleibt, was es ist.