Es gilt das gesprochene Wort!

Ansprache von Nationalratspräsident Ruedi Lustenberger
 

 

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, liebe Corina,
Sehr geehrte Ratsmitglieder, chers Collègues, cari Colleghi e amici,
Monsieur le Secrétaire général,
Sehr geehrter Herr alt Generalsekretär,
Sehr geehrte Autoren und Herausgeber des ersten Kommentars über Parlamentsrecht und Parlament,
Geschätzte Mitarbeiter der Parlamentsdienste,
Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Presse,
Liebe Gäste

 
Es gibt im östlichen Alpenraum eine bei alt hergebrachte Sportart, bei der Kraft und eine gute Technik gefordert sind. Ich rede vom Fingerhakeln. Dabei sitzen die Gegner einander an einem Tisch gegenüber und versuchen, sich gegenseitig zu sich herüberzuziehen. Diese Sportart ist sogar in die Umgangssprache eingegangen. Wenn wir sagen «jemanden über den Tisch ziehen», dann hat diese Redewendung ihren Ursprung im Fingerhakeln.

 
Je dois quelques mots d’explication aux Romands qui ne connaissent pas le jeu du « Fingerhackeln » : il s’agit d’une sorte de « bras de fer » avec les doigts. Les deux adversaires qui se font face passent tous deux leur majeur dans une sorte de bracelet de cuir et commencent à tirer. Celui qui parvient à amener son vis-à-vis, au-delà d’une ligne tracée sur la table, a gagné.
Die beiden Ereignisse, die wir heute feiern – der Jahrestag der Bundesverfassung von 1848 und das Erscheinen des Kommentars zum Parlamentsgesetz – haben mehr miteinander, und eben auch etwas mit dem Fingerhakeln zu tun, als es auf den ersten Blick scheint.

 
Der Weg damals zur Bundesverfassung war nicht so geradlinig, wie die blossen Daten es nahelegen. Am 9. September 1814, also vor genau 200 Jahren, wurde die Eidgenossenschaft neu konstituiert und die Tagsatzung in Zürich stimmte dem Bundesvertrag zu. Der 9. Sept. 1814 ist der eigentliche Stichtag des Übergangs von der Mediaton zur Restauration in der Eidgenossenschaft. Drei Tage darauf, am 12. September 1814, nahm die Tagsatzung die Kantone Wallis, Neuenburg und Genf in die Eidgenossenschaft auf. Weitere 34 Jahre später, am 12. September 1848, wurde die Bundesverfassung verabschiedet. Sie führte die grundlegende Organisation des Staates ein, die auch heute noch gilt. Die Veränderungen gegenüber dem vorangehenden Bundesvertrag waren gross. So legte die Verfassung von 1848 zwei parlamentarische Kammern fest: den Nationalrat, zusammengesetzt entsprechend der Bevölkerungszahl, und den Ständerat, entsprechend der Anzahl Kantone.
Die Bundesverfassung war das Ergebnis vieler Jahre der Auseinandersetzung, konservativer Putsch und liberale Revolution lösten einander ab und mündeten schliesslich in den Sonderbundkrieg. Die beiden Seiten versuchten einander über den Tisch zu ziehen, bis die Einsicht wuchs, dass das Hin und Her der Kräfte keine dauerhafte Lösung war. Es brauchte einen Ausgleich der Kräfte. Mit der Schaffung des Ständerates kamen die fortschrittsgläubigen Zentralisten den konservativen Föderalisten einen, vermutlich sogar den entscheidenden Schritt entgegen.
Mit der Bundesverfassung von 1848 wurde ein Ausgleich gefunden und ein Parlament mit zwei Kammern – damals noch «Abteilungen» genannt – eingeführt. Damit die beiden Kammern vernünftig arbeiten konnten, mussten sie den Umgang untereinander regeln. Die Grundlage dafür bildete das Geschäftsverkehrsgesetz, das die Bundesversammlung 1849 verabschiedete. Das Geschäftsverkehrsgesetz war ein Erlass von erstaunlicher Langlebigkeit. Erst 2002 wurde es – nach wenigen Revisionen – durch das Parlamentsgesetz abgelöst. 12 Jahre später liegt nun auch der Kommentar zu diesem Gesetz vor.

 
Das Parlamentsgesetz regelt fünf verschiedene Teilgebiete. Ich greife nicht ganz willkürlich zwei davon heraus. Das Parlamentsgesetz regelt die Beziehungen zwischen der Bundes-versammlung und dem Bundesrat, und es regelt die Beziehungen zwischen der Bundes-versammlung und den eidgenössischen Gerichten. Damit sind die drei Akteure der klassischen Gewaltenteilung benannt, wie sie jeder Lehrling im Staatskundeunterricht lernt: die Bundesversammlung als Gesetzgeberin, der Bundesrat als ausführendes Organ und die eidgenössischen Gerichte für die Rechtsprechung.
Das Prinzip der Gewaltenteilung ist nicht in jedem Fall bei allen modernen Staaten anerkannt, dazu gibt es manche Gegenbeispiele. Aber zumindest die demokratisch organisierten Staaten versuchen die Gewaltenteilung umzusetzen. Wobei Kritiker anführen könnten, dass es letztlich darauf ankommt, ob sie nur auf dem Papier gilt oder eben auch in der täglichen Anwendung.
Indem man die Aufgaben, die ein Staat erfüllen soll, auf verschiedene Institutionen aufteilt, verhindert man, dass sich zuviel Macht an einem Ort konzentrieren kann, und man schafft die Möglichkeit der gegenseitigen Kontrolle. Soweit die Theorie des Lehrbuchs.

 
Sie, meine Damen und Herren haben mich eher als Praktiker, denn als Theoretiker kennen gelernt. Und so mag es nicht erstaunen, wenn ich Ihnen im Zusammenhang mit dem heutigen Thema sage, dass die Realität nicht immer dem Lehrbuch entspricht, und – zugegebenermassen - meistens sogar noch etwas komplizierter ist als die reine theoretische Lehre.
In einer direkten Demokratie wie der Eidgenossenschaft ist das klassische Dreieck der Gewaltenteilung unvollständig. Wieso? Weil, die Stimmberechtigten, der Souverän kommen darin nicht vor. Die meisten westlichen Demokratien sind nach dem Prinzip der repräsentativen Demokratie aufgebaut. Der Souverän, das Volk, delegiert dort die meisten seiner Rechte an seine Vertreter im Parlament. Diese versuchen dann mehr oder weniger eigenständig die Aufträge ihrer Wähler umzusetzen. In der Schweiz hingegen können die Stimmberechtigten mit den Instrumenten des Referendums und der Volksinitiative in den Gesetzgebungsprozess eingreifen. Das Parlament muss seine Arbeit laufend gegenüber den Stimmberechtigten rechtfertigen. Die Gewaltenteilung wäre demnach schon eher als ein Viereck zu betrachten.
Aber auch diese Figur trifft bei näherer Betrachtung nicht zu. Gewaltenteilung in der Eidgenossenschaft ist eigentlich ein Vieleck. Der Föderalismus trägt seinen Teil zur Gewaltenteilung bei. Unser Staat in der Senkrechten gegliedert in Bund, Kanton und Gemeinde. Einerseits weist die Bundesverfassung dem Bund nur einen Teil der staatlichen Aufgaben zu, andere bleiben bei den Kantonen. Wir haben in den letzten Jahren gesehen, dass die Kantone bestrebt sind, ihre Anliegen gegenüber dem Bund besser zu vertreten. Das Haus der Kantone ist ein sichtbares Zeichen dafür. Durch den Föderalismus lässt sich Ansammlung von Macht ebenfalls eindämmen.
Die Vertreter der staatlichen Institutionen, Bundesräte, National- und Ständerate, Kantonsbehörden, Gemeindebehörden sind auf vier Jahre gewählt. Eine Ausnahme machen die Bundesrichter: Ihre Amtsdauer beträgt sechs Jahre. Die Präsidenten der Legislative und Executive sind – manchmal zu ihrem eigenen Leidwesen – sogar nur für ein Jahr im Amt. Die Behördenvertreter bekommen ihre Macht also auf Zeit. In einer Konsensdemokratie wie der Eidgenossenschaft kommt der zeitlichen Begrenzung oder Vorläufigkeit von Macht grosse Bedeutung zu. Die Wahlen stellen eine wichtige Sanktionsmöglichkeit dar.
Und dann wirken im Staat auch noch verschiedene Interessengruppen mit: Parteien, Verbände, Zusammenschlüsse mit wechselnden Interessen, ich denke etwa an Abstimmungs- und Initiativkomitees. Wenn Probleme besonders drängend werden, bilden sich neue, vielleicht kurzlebige Gruppen, andere haben ihre Ziele erreicht – oder auch nicht – und lösen sich wieder auf. Alle diese Gruppen versuchen, die staatlichen Akteure in ihrem Sinn zu beeinflussen und führen dadurch zu einer Art «sozialen» Gewaltenteilung.
Gewaltenteilung ist also nicht etwas, das nur auf der obersten staatlichen Ebene vollzogen wird, sondern sie durchdringt im Idealfall die ganze staatliche Organisation. Das Parlament als Volks- und Ständevertretung steht mitten in diesem Kräftespiel. Es nimmt die verschiedenen Kräfte auf und leitet sie in Form von Aufträgen an den Bundesrat weiter. Schön und gut. Aber was hat das mit dem Parlamentsgesetz zu tun? Zwei Aufgaben, die das Parlamentsgesetz näher umreisst, habe ich erwähnt. Das Parlamentsgesetz regelt aber auch die Rechte und Pflichten der Mitglieder der Bundesversammlung; es legt die Aufgaben und Organisation der Bundesversammlung fest und es regelt das Verfahren in der Bundesversammlung. Das Parlamentsgesetz liefert also den Rahmen für die Arbeit des Parlaments.
Für gute parlamentarische Arbeit, das heisst für kluge, dauerhafte Gesetze ist es wichtig, dass dieser Rahmen solide gezimmert ist. Er muss stabil genug sein, um die verschiedenen Kräfte aufzufangen, er darf aber nicht zu eng sein, um damit auch kontroverse Diskussionen zu ermöglichen. Und er muss das Parlament in den Auseinandersetzungen mit dem Bundesrat und den eidgenössischen Gerichten unterstützen und - das ist mir sehr wichtig - die Aufsichtstätigkeit des Parlaments nicht nur sicher zu stellen, sondern auch zu unterstützen. Gewaltenteilung kann man nicht einfach einmal in die Verfassung schreiben und dann funktioniert sie automatisch für alle Zeiten. Gewaltenteilung muss laufend ausgehandelt, manchmal sogar neu erkämpft und bestimmt werden.
Gerade in den letzten Jahren kam es häufiger zu einem Fingerhakeln zwischen der Bundesversammlung und dem Bundesrat gekommen. Ich erinnere an die Presseförderung, die das Parlament 2007 beraten hat. Das Zögern des Bundesrates, diesen Auftrag der Bundesversammlung umzusetzen, hat die Umsetzung des Anliegens im Postgesetz zu einer Zangengeburt werden lassen. Dieses Beispiel, neben anderen, hat dazu geführt, dass die Bundesversammlung das Motionsrecht im Parlamentsgesetz präzisiert und zu Gunsten des Parlaments verschärft hat. Neueren Datums sind die Fälle, in denen sich der Bundesrat gesträubt hat, den Kontrollorganen der Bundesversammlung umfassend Auskunft zu geben. Ich erinnere an den Fall Tinner oder an die Herausgabe der UBS-Akten an die USA. Als Kommissionssprecher habe ich damals dem Bundesrat mehrfach das Unbehagen der Bundesversammlung über diese Entwicklung mitgeteilt.


Hier beginnt nun der Vergleich mit dem Fingehakeln allerdings zu hinken. Es geht in der Auseinandersetzung zwischen Bundesversammlung und Bundesrat nicht darum, dass die eine Seite die andere über den Tisch zieht. Sondern es geht darum, dass jede Institution des Staates ihre von der Verfassung übertragenen Pflichten erfüllen kann. Die Bundesversammlung ist, um ihre Kontrolltätigkeit wahrnehmen zu können, angewiesen auf unmissverständliche Regelungen. Das Parlamentsgesetz hat, was die Aufsicht angeht, zu einiger Klarheit geführt. Nun geht es darum, dass sich Bundesrat und Bundesversammlung darüber einig werden, wie diese Regelungen sich in Zukunft weiterentwickeln. Und es geht auch darum, dass die Institutionen gemeinsam die beste Lösung für ein Problem suchen. Dass dabei verschiedene Auffassungen von Gewaltenteilung aufeinandertreffen, liegt in der Natur der Gewaltenteilung selber. Wenn ein staatliches Prinzip lebendig bleiben soll, muss darum gerungen werden. Das Parlamentsgesetz gibt die Handhabe dazu.


Der Kommentar zum Parlamentsgesetz schliesslich gibt nun der Bundesversammlung und ihren Organen ein Instrument oder Werkzeug in die Hand, welches sie in der Praxis bei der Erfüllung ihrer verfassungsmässigen Aufgaben unterstützt. Doch dazu hören Sie gleich noch mehr. Ich danke schon einmal den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den drei Herausge¬bern und dem Verlag für die grosse Arbeit, die sie für diesen wertvollen Kommentar geleistet haben. Und Ihnen geschätzte Damen und Herren, danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.