Die GPDel hat den neuesten Beschluss des Bundesrats zum Fall Tinner überprüft und kommt zum Schluss, dass die vorgesehene Vernichtung von Beweismaterial nicht rechtmässig ist. Die GPDel ist der Überzeugung, dass die Strafprozessordnung genügend Instrumente enthält, um eine sichere und rechtskonforme Verwendung des Beweismaterials zum Fall Tinner zu gewährleisten. Sie appelliert an die Verantwortung des Bundesrats und fordert ihn auf, mit den betroffenen Justizbehörden Wege und Mittel zu suchen, um alle aufgefundenen Unterlagen in die Obhut der Justizbehörden zu überführen und das Strafverfahren zu einem rechtsstaatlich einwandfreien Abschluss bringen zu können.

Der Bundesrat hat am 24. Juni 2009 beschlossen, in Kürze einen Teil des Beweismaterials aus dem Strafverfahren Tinner zu vernichten. Diese Unterlagen umfassen insbesondere Baupläne für Komponenten und Anleitungen zum Bau von Kernwaffen.

In ihrem Bericht vom 19. Januar 2009 anerkannte die GPDel das Risiko, das von solchen Plänen für die Schweiz ausgehen kann. Gleichzeitig stellte sich die GPDel auf den Stand-punkt, die Schweiz müsse als souveräner Rechtsstaat in der Lage sein, sensitive Informati-onen ausreichend zu schützen. Die Delegation geht auch heute noch von dieser Prämisse aus. Deshalb liegen aus ihrer Sicht keine hinreichenden sicherheitsrelevanten Gründe vor, um die Kernwaffenbaupläne sofort zu vernichten.

Die GPDel hat in ihrem Bericht ausführlich dargelegt, dass es unter völkerrechtlichen Ge-sichtspunkten der Schweiz nicht verboten ist, solche Unterlagen zur ausschliesslichen Ver-wendung in einem Strafverfahren zu besitzen. Ein fortdauernder Besitz dieser Unterlagen kann dann nicht mehr als gerechtfertigt erachtet werden, wenn sie ihren Zweck für die Straf-verfolgung erfüllt haben. Die GPDel wird in ihrer Einschätzung der Rechtslage durch die Stellungnahme der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) zu den Pflichten der Schweiz aufgrund des Atomwaffensperrvertrags bestätigt. Diese Stellungnahme wurde vom Bundesamt für Justiz eingeholt und liegt der GPDel vor.

Mit der am 24. Juni 2009 beschlossenen Vernichtung von Beweismaterial greift der Bundes-rat erneut in die Unabhängigkeit der Justiz ein. Ein solcher Eingriff ist nur ausnahmsweise und nur gestützt auf Notrecht möglich. Für die Anwendung von Notrecht im konkreten Fall kann der Bundesrat jedoch keine völkerrechtlichen Gründe geltend machen. Die GPDel ist der Meinung, dass die Schweiz die Sicherheit eines geringen Datenbestands – es geht um etwa 100 Seiten – ohne weiteres garantieren kann, bis das Verfahren mit einem rechtskräf-tigen Urteil abgeschlossen ist.

Der Beschluss des Bundesrats vom 24. Juni 2009 ist der GPDel eröffnet worden. Sie kann ihre Kernaufgabe, als Instanz der Oberaufsicht die Rechtmässigkeit dieses Beschlusses zu überprüfen, wahrnehmen. Die GPDel stellt fest, dass der Beschluss sich weder explizit auf die Bundesverfassung abstützt noch eine Begründung enthält, die aus heutiger Sicht die Anwendung von Notrecht als gerechtfertigt erscheinen liesse. Der Bundesrat beruft sich nicht mehr explizit auf die Notrechtsbestimmungen der Bundesverfassung, um erneut in die Unabhängigkeit der Justiz einzugreifen.

Nach Vorliegen der Stellungnahme der IAEO besteht kein Zweifel mehr daran, dass der Bundesrat für seinen neuesten Beschluss keine völkerrechtlich begründeten Vorgaben gel-tend machen kann. Während ihrer laufenden Untersuchung und den Aussprachen mit den Vertretern des Bundesrats wurde die GPDel auch auf keine konkreten aussenpolitischen Interessen aufmerksam gemacht, die den gefassten Beschluss hätten rechtfertigen können. Die GPDel kommt deshalb zum Schluss, dass der Entscheid des Bundesrats vom 24. Juni 2009, Beweismaterial zu vernichten, nicht rechtmässig ist.
Die Stellungnahme der IAEO macht klar, dass es einem Staat aus völkerrechtlicher Sicht nicht untersagt ist, sensitive Dokumente zu besitzen, die den nuklearen Brennstoffzyklus (z.B. die Urananreicherung) betreffen. Die meisten Staaten kontrollieren den Zugang zu sol-chen Unterlagen auf strikte Art und Weise über ihre nationale Gesetzgebung. Die GPDel bedauert, dass der Bundesrat nicht mit den Justizbehörden, das heisst insbesondere mit dem Bundesstrafgericht in Bellinzona und dem Eidgenössischen Untersuchungsrichteramt, einen Weg gesucht hat, wie die Unterlagen zur Urananreicherung unter der Obhut der Jus-tizbehörden sicher aufbewahrt werden können. Dies hatte die GPDel dem Bundesrat bereits am 11. Juni 2009 empfohlen.

Die GPDel ist der Überzeugung, dass die Strafprozessordnung genügend Instrumente ent-hält, um eine sichere Verwendung des Beweismaterials im Fall Tinner zu gewährleisten und damit den berechtigten Sicherheitsinteressen Rechnung zu tragen. Dazu befragte die GPDel Vertreter der Bundesanwaltschaft und einen externen Experten. Die Delegation er-hielt auch verschiedene Auskünfte und Unterlagen vom Bundesstrafgericht.

Die GPDel teilt die Ansicht der I. Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts und unter-stützt ihre Kritik am Beschluss des Bundesrats. Die GPDel hält auch fest, dass der Bundes-rat das Bundesstrafgericht nicht von sich aus über die neu aufgetauchten Akten im Fall Tin-ner informiert hat. Das Bundesstrafgericht erfuhr erst an dem Tag von den Akten, als der Bundesrat nach einer Aussprache mit der GPDel beschloss, deren Existenz öffentlich zu machen, das heisst am 1. April 2009. Die GPDel hat zur Kenntnis genommen, dass das Bundesstrafgericht Anfang April schriftlich beim EJPD vorstellig wurde, um einen Meinungs-austausch mit der Vorsteherin EJPD bzw. dem Bundesrat in die Wege zu leiten. Allerdings blieb diese Anfrage bis heute unbeantwortet.

Die GPDel appelliert an die Verantwortung des Bundesrats und ersucht ihn mit Nachdruck, auf seinen Entscheid zurückzukommen. Sie fordert den Bundesrat auf, zusammen mit den involvierten Strafverfolgungsbehörden und insbesondere mit den zuständigen Gerichten nach Lösungen zu suchen, die einerseits den berechtigten Sicherheitsanliegen des Bundes-rats Rechnung tragen und andererseits einen Zugriff der Justizbehörden ermöglichen, ohne dass Beweismittel vor Abschluss des hängigen Strafverfahrens vernichtet werden.

 

Bern, 30. Juni 2009 Parlamentsdienste