Ausgangslage und parlamentarischer Auftrag
Die parlamentarischen Verfassungskommissionen
Behandlung in den Räten
Volksabstimmung vom 18. April 1999

 

Ausgangslage und parlamentarischer Auftrag

Auszug aus: Reform der Bundesverfassung - Verfassungsentwurf 1995: Erläuterungen (S. 8–11)

Die Reformbedürftigkeit als Auslöser der Verfassungsreform

Die geltende Bundesverfassung stammt aus dem Jahre 1874. Sie ist das Resultat der ersten und zugleich einzigen Totalrevision der Gründerverfassung aus dem Jahre 1848, durch welche der Bundesstaat Schweiz geschaffen worden ist. Seither ist die Bundesverfassung nie mehr einer gesamthaften Revision unterzogen worden. Allerdings haben Volk und Stände in diesen Jahren den Verfassungstext mehr als hundertdreissig Mal geändert. Diese Teilrevisionen haben ein unübersehbares, aber auch unübersichtliches Flickwerk hinterlassen. Die vielen Jahre haben ihr zugesetzt. Die innere Kohärenz der Verfassung ist nicht mehr gegeben. In vielen Teilen finden sich nur noch die Experten zurecht. Unsere Verfassung ist den Bürgerinnen und Bürgern fremd geworden. Sie kennen sie nicht mehr und identifizieren sich nicht mehr mit ihr. Dies bedeutet aber auch, dass der Glaube an die Verfassung als wegweisendes Grundgesetzt der Schweizerischen Eidgenossenschaft in weiten Kreisen des Volkes im Schwinden begriffen ist. Sie hat an Wert und Wertschätzung verloren. Die Verfassung verliert dadurch zunehmend ihre wichtigste Funktion, nämlich ihre Überzeugungskraft und ihre Steuerungsfunktion für das gesamte staatliche Handeln.

Die Schweiz braucht deshalb eine neue Verfassung: eine Verfassung, die den Bundesstaat Schweiz in der Sprache unserer Zeit und nach unserem heutigen Verständnis zum Ausdruck bringt. Es sind nun über 30 Jahre her, seit die Bundesversammlung die Motionen von Ständerat Karl Obrecht und Nationalrat Peter Dürrenmatt überwiesen hat, die eine Totalrevision der Bundesverfassung verlangt haben. 30 Jahre Diskussionen von Verfassungsexperten und in politischen Kreisen sind genug: wir müssen das begonnene Werk einer Renovation unseres Verfassungshauses in diesem Jahrhundert beenden.

Vorarbeiten für eine Reform der Bundesverfassung

An Plänen und Vorschlägen für eine Totalrevision der Bundesverfassung mangelt es nicht. Zwei Expertenkommissionen, die Arbeitsgruppe von alt Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen (1967-73) und die grosse Expertenkommission unter der Leitung von Bundesrat Kurt Furgler (1973-77) haben die formellen und materiellen Mängel unserer Verfassung im einzelnen diagnostiziert, mögliche neue Lösungen aufgezeigt und den Entwurf einer neuen Verfassung unterbreitet. Dieser Verfassungsentwurf ist zusammen mit einem Begleitbericht der Öffentlichkeit vorgestellt und zur Diskussion unterbreitet worden. Er vermochte ein ausserordentlich grosses Interesse zu wecken und fand auch im Ausland Beachtung. In vielen Kreisen stiess er auf hohe Anerkennung, wenn auch nicht überall auf ungeteilte Unterstützung. Insbesondere die Kantone und die Wirtschaftsverbände erhoben kritische Einwände.
Im Licht dieses Vernehmlassungsergebnisses überarbeitete das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) im Auftrag des Bundesrats den Verfassungsentwurf Furgler und erarbeitete einen umfassenden Bericht und einen neuen Entwurf, die sogenannte Modellstudie JPD 1985 («So könnte eine neue Bundesverfassung aussehen», veröffentlicht im Bundesblatt 1985 III 1). Der Bundesrat seinerseits bejahte die Notwendigkeit einer Gesamtrevision der Verfassung, beschloss jedoch, dass diese Grundsatzfrage erneut der Bundesversammlung zu unterbreiten sei.

Der Bundesbeschluss von 1987

Nach intensiven Diskussionen in den parlamentarischen Kommissionen fassten die Eidgenössischen Räte am 3. Juni 1987 drei wichtige Verfahrensbeschlüsse (vgl. zu den Debatten und zum Beschluss das Amtliche Bulletin des Ständerats 1986 783–808 und des Nationalrats 1987 626–673):

Art. 1: «Die Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 wird total revidiert (Art. 120 BV).»

Art. 2: «Der Bundesrat unterbreitet der Bundesversammlung den Entwurf zu einer neuen Bundesverfassung.»

Art 3: «Der Entwurf wird das geltende geschriebene und ungeschriebene Verfassungsrecht nachführen, es verständlich darstellen, systematisch ordnen sowie Dichte und Sprache vereinheitlichen.»

Der Bundesrat hat also den Auftrag erhalten, einen Verfassungsentwurf zu erarbeiten, der das geltende Verfassungsrecht umfassend, einheitlich und verständlich wiedergibt; das Verfassungsrecht, wie es in den bald 150 Jahren seit der Gründung des Bundesstaates gewachsen, angewendet und weiterentwickelt worden ist. Der Parlamentsauftrag setzte damit klare Leitplanken für die Weiterverfolgung der Verfassungsrevision: keine Neuordnung des Staatswesen, weil die Wesenselemente der Eidgenossenschaft, insbesondere der föderalistische Aufbau, die Institutionen der direkten Demokratie, das grundsätzliche Verhältnis von Bundesversammlung und Bundesrat, die aussenpolitischen Maximen der Neutralität, die Wirtschafts- und Sozialordnung nicht als grundlegend überholt betrachtet worden sind. Hingegen soll das gesamte geltende Verfassungsrecht à-jour gebracht, also klar, verständlich und lesbar und damit auch überzeugend nachgeführt werden. Soweit dem Bundesrat materielle Änderungen des Verfassungsrechts als notwendig erscheinen, soll er diese nach dem Willen des Parlamentes als Varianten vorschlagen, also klar unterscheidbar vom nachgeführten Verfassungstext.

Verhältnis zur Frage der europäischen Integration

Das den Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) und damit auch der Schweiz Ende der 80er Jahre unterbreitete Angebot von multilateralen Vertragsverhandlungen mit der Europäischen Union (EU) schuf eine neue Ausgangslage, da nun der Abschluss eines Abkommens für einen Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) erste Priorität erlangte. Nach Ansicht des Bundesrates sollte die Verfassungsrevision erst nach dem Inkrafttreten des EWR wieder an die Hand genommen werden.

Volk und Stände haben bekanntlich am 6. Dezember 1992 den EWR-Vertrag abgelehnt. Eine neue Beurteilung der Lage führte den Bundesrat zum Schluss, dass es falsch wäre, die Verfassungsrevision von der weiteren Entwicklung des Verhältnisses der Schweiz zur Europäischen Union (EU) abhängig zu machen. Im Gegenteil gelte es jetzt, das eigene Haus in Ordnung zu bringen. Dazu gehören auch die Bemühungen von Bundesrat und Bundesversammlung um eine grundlegende Regierungs- und Parlamentsreform. Durch mehrere parlamentarische Vorstösse und vor allem durch die Kantone selbst ist in jüngerer Zeit auch eine Erneuerung des Verhältnisses von Bund und Kantonen gefordert worden. Diese verschiedenartigen Reformanliegen sind letzlich alles Bestandteile eines wachsenden Bedürfnisses nach einer Reform der staatlichen Institutionen.

Die Motion Josi Meier

In ihrer Motion vom 28. April 1993 (93.3218) forderte Ständerätin Josi Meier den Bundesrat auf, die Totalrevision der Bundesverfassung so voranzutreiben, dass auf das 150-Jahr-Jubiläum des Bundesstaates 1998 eine entsprechende Vorlage durch die Bundesversammlung verabschiedet werden könne. Der Ständerat stimmte der Motion am 16. Dezember 1993 ohne Gegenstimme zu, und der Nationalrat überwies sie am 16. Dezember 1994 mit 105 gegen 54 Stimmen. Auch weitere Vorstösse zielten in dieselbe Richtung. Die Debatten haben gezeigt, dass die Nachführung der Verfassung zwar nur als ein erster Schritt betrachtet wird in einem längerdauernden und umfassenden Reformprozess, dass aber zumindest die nachgeführte Verfassung als erneuerte Basis für weitere Reformen zum geforderten Zeitpunkt entscheidungsreif sein sollte. Das Parlament hat sich damit gewissermassen selbst in Pflicht genommen, den eingeschlagenen ambitiösen Zeitplan in seinen Beratungen einzuhalten (vgl. das Amtliche Bulletin des Ständerats 1993 1101–1106 und dasjenige des Nationalrats 1994 1645–1647 und 2439–2447).

Die parlamentarischen Verfassungskommissionen

(Jedes Sachgeschäft wird, bevor es im Rat behandelt wird, durch Kommissionen des National- und Ständerates vorbereitet.)

Am 11. und 12. Dezember 1996 haben die Verfassungskommissionen (VK) der Eidg. Räte ihre konstituierenden Sitzungen abgehalten. Der Arbeitsplan der Kommissionen sieht vor, dass sie die Vorberatung der Verfassungsreform bis Ende 1997 abschliessen. Im Laufe des Jubiläumsjahres 1998 sollte die Verfassungsreform von den Räten beraten und verabschiedet werden können, wie dies die im Jahre 1994 überwiesene Motion Josi Meier als Ziel gesetzt hat. Die Volksabstimmung sollte so im Jahre 1999 stattfinden können.

Beratungen der Verfassungskommissionen: Presserohstoff zur Pressekonferenz vom 28.11.1997

Entwurf der Verfassungskommission des Nationalrates vom 21. November 1997 und der Verfassungskommission des Ständerates vom 27. November 1997 (PDF)Formatwechsel

Behandlung in den Räten

96.091 Bundesverfassung. Reform

Nationalrat: Amtliches Bulletin, Separatdruck (PDF)Formatwechsel

Ständerat: Amtliches Bulletin, Separatdruck (PDF)

Bundesbeschluss über eine neue Bundesverfassung vom 18. Dezember 1998 (PDF)

Volksabstimmung vom 18. April 1999

Amtliche Endergebnisse