​​Die Bundesversammlung spricht Begnadigungen aus und entscheidet über Amnestien.

GegenüberstellungBegnadigungAmnestie
Verzicht auf Vollzug der Strafe (oder Strafmilderung)Strafverfolgung und Vollzug der Strafe
angewandt auf eine bestimmte Person
(persönlich)
eine Vielzahl von Personen
(unpersönlich, Massenbe­gnadigung)
Kompetenz der Bundesversammlungnur bei Urteilen von Bundesbehördengesamtes Bundesstrafrecht
Beratung in den Räten gemeinsame Beratung
(Vereinigte Bundesversammlung)

getrennte Beratung

I. Begnadigung

Durch eine Begnadigung wird ganz oder teilweise auf den Vollzug einer gegen eine bestimmte Person rechtskräftig ausgesprochenen Strafe verzichtet (Art. 383 Abs. 1 StGB). Damit erhält die Gnade gegenüber der Strafe den Vorrang. Auch die Umwandlung einer Strafe in eine mildere Strafe ist möglich (Art. 383 Abs. 1 StGB).

Die Bundesversammlung ist zuständig, wenn die Straf- oder Berufungskammer des Bundesstrafgerichts oder eine Verwaltungsbehörde des Bundes geurteilt hat (Art. 381 Bst. a StGB). In Fällen, in denen eine kantonale Behörde geurteilt hat, steht das Recht zur Begnadigung der Begnadigungsbehörde des Kantons zu (Art. 381 Bst. b StGB).

Über Begnadigungen befindet die Vereinigte Bundesversammlung (Art. 157 Abs. 1 Bst. c BV). Begnadigungsgesuche werden von der Kommission für Begnadigung und Zuständigkeitskonflikte vorberaten (Art. 40 Abs. 1 ParlG) und dem Bundesrat überwiesen, der seinerseits Bericht erstattet und einen Antrag stellt (Art. 40 Abs. 3 ParlG).

Fakten und Zahlen

Zwischen 1997 und 2008 wurden der Vereinigten Bundesversammlung zehn Begnadigungsgesuche gestellt, zwei davon wurden gutgeheissen:

  • Beim ersten Gesuch (98.064) hatte die verurteilte Person 282 421 Kilogramm zollbegünstigtes Heizöl als Dieselmotorenöl verkauft. Angesichts ihrer prekären finanziellen Verhältnisse und aufgrund der Tatsache, dass sie Reue gezeigt und bereits einen Teil der Busse beglichen hatte, beschloss die Vereinigte Bundesversammlung, die Restbusse gnadenweise zu erlassen.
  • Im zweiten Fall (02.018) begnadigte die Vereinigte Bundesversammlung einen Metzger, der eine Tonne Fleisch illegal importiert hatte. Auch er befand sich in einer prekären finanziellen Lage, da er infolge eines Verkehrsunfalls seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte. Von seinem Willen zur Sühne zeugte die Tatsache, dass er die nachgeforderten Zoll- und Steuerabgaben von 25 000 Franken bezahlt hatte.

Nach einer zwölfjährigen Pause wurde 2020 erstmals wieder ein Begnadigungsgesuch (20.019) eingereicht. Dieses wurde von der Vereinigten Bundesversammlung jedoch abgelehnt.

II. Amnestie

Unter den Begriff der Amnestie fallen sowohl der Verzicht auf die Strafverfolgung bestimmter Taten oder Kategorien von Tätern wie auch der Erlass der entsprechenden Strafen (Art. 384 Abs. 2 StGB).

Amnestien haben die Wirkung eines Straferlasses für ganze Personengruppen. Sie werden daher auch als «Massenbegnadigungen» bezeichnet.

Amnestien liegen für das gesamte Bundesstrafrecht in der Kompetenz des Bundes (Art. 384 Abs. 1 StGB). Die Bundesversammlung kann somit in Strafsachen, auf die das Strafgesetzbuch oder ein anderes Bundesgesetz Anwendung finden, eine Amnestie gewähren.

Während Begnadigungen der Vereinigten Bundesversammlung zufallen, befinden über Amnestien beide Räte getrennt.

Nicht zu verwechseln mit der strafrechtlichen Amnestie ist die Steueramnestie, bei der nicht bloss auf eine Strafe, sondern auch auf Steuern verzichtet wird. Steueramnestien bedürfen daher, im Gegensatz zu den strafrechtlichen Amnestien, einer Gesetzes- oder Verfassungsrevision.

Fakten und Zahlen

Seit der Gründung des Bundesstaates befasste sich die Bundesversammlung mit 19 strafrechtlichen Amnestiegesuchen.

Im 19. Jahrhundert haben die Räte dreimal, im 20. Jahrhundert zweimal eine Amnestie gewährt:

  • 1854 nach Unruhen bei Nationalratswahlen in Giubiasco, Agno und im Onsernonetal,
  • 1857 wegen militärischen und politischen Delikten anlässlich des sog. Neuenburgerhandels,
  • 1889/90 im Zusammenhang mit den Prozessen wegen der Tessiner Ereignisse und
  • 1955 wegen Höchstpreisüberschreitungen auf Heu und Emd sowie auf Schlachtschweinen.

Die übrigen Gesuche wurden abgelehnt:

  • 1861/70 Amnestiebegehren zugunsten der 800 Schweizer, die in fremde Kriegsdienste getreten waren;
  • 1902 Amnestiebegehren zugunsten der vom Militärgericht der I. Division wegen Ausreissens Verurteilten;
  • 1919 Amnestiebegehren zugunsten der Teilnehmer am Generalstreik von 1918;
  • 1922 Amnestiebegehren zugunsten von Schweizern im Ausland, die dem Mobilisationsbefehl nicht Folge geleistet hatten;
  • 1939 Amnestiebegehren zugunsten der Teilnehmer am spanischen Bürgerkrieg;
  • 1975 Amnestiebegehren zugunsten der Besetzer des für das Kernkraftwerk Kaiseraugst vorgesehenen Geländes;
  • 1981 Amnestiebegehren zugunsten von Dienstverweigerern aus Gewissensgründen bis zur Einführung eines zivilen Ersatzdienstes;
  • 1982 Amnestiebegehren in Sachen Jugendunruhen;
  • 1983 Amnestiebegehren für Cannabishändler und Cannabiskonsumenten;
  • 1984 Amnestiebegehren zugunsten aller Personen, die im Zusammenhang mit der Jura-Frage verurteilt wurden;
  • 1988 Amnestiebegehren für leichte Straffälle zum 700-jährigen Bestehen der Schweizerischen Eidgenossenschaft;
  • 1989 Amnestiebegehren für Militärdienstverweigerer;
  • 1997 Amnestiebegehren für «Papierlose»;
  • 1999 Amnestiebegehren für Strafurteile gegen Schweizer Kämpfer in den internationalen Brigaden und der französischen Résistance.

Seit 2000 wurden keine neuen Amnestiegesuche gestellt.

Quellen

  • Haupttext: 99.464 Parlamentarische Initiative: Rehabilitierung der Flüchtlingshelfer und der Kämpfer des Nationalrates gegen Nationalsozialismus und Faschismus, Bericht der Kommission für Rechtsfragen, BBl 2002 7791; Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 401 f.; Alexandre Schneebeli Keuchenius, Art. 40 N 8, in: Graf/Theler/von Wyss (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis der Schweizerischen Bundesversammlung, Kommentar zum Parlamentsgesetz (ParlG) vom 13. Dezember 2002, Helbing Lichtenhahn Verlag, Basel 2014, S. 336; Jean-François Aubert, Art. 85, N 102 f. in: Aubert/Eichenberger/Müller/ Rhinow/Schindler, Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874, Bern 1996.
  • Abschnitt «Amnestiegesuche seit 1848»: AB 1982 N 1641 f.; Mariangela Wallimann-Bornatico, Die Amnestie, RSJ 1985, S. 197 f.; Hans Vest, Art. 173 N 162 Bst. k, in: Ehrenzeller/Schindler/Schweizer/Vallender (Hrsg.), Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, Schulthess, 2014.