Die Neutralitätsfrage im Zentrum der Diskussion

 

Mitte 1920 trat die Schweiz dem Völkerbund bei, dem Vorläufer der UNO, der zwecks internationaler Konfliktbeilegung und Friedenssicherung einige Monate zuvor ins Leben gerufen worden war.

Fast alle Beiträge zum Völkerbundsbeitritt der Schweiz fokussieren auf die Rolle des Bundesrates bzw. einzelner Bundesräte – Gustave Ador, Felix Calonder, Giuseppe Motta – sowie auf den Abstimmungskampf, welcher der Volksabstimmung voranging. Das hat durchaus seine Berechtigung, denn die genannten Bundesräte haben hinsichtlich des Beitritts der Schweiz, der Bestimmung des Völkerbundssitzes und des Wirkens der Schweiz in diesem Gremium tatsächlich eine bedeutende Rolle gespielt. Bedeutend war auch die Volks­abstimmung, einerseits wegen der Wichtigkeit des Themas, andererseits wegen der damit verbundenen Erweiterung der Volksrechte, konnte das Volk doch bei diesem Urnengang erstmals über einen internationalen Vertrag abstimmen.

In den Hintergrund geriet dabei aber die zentrale Rolle des Parlamentes, das im November 1919 und im März 1920 zwei grosse Debatten zur Beitrittsfrage führte und mit seinem zustimmenden Entscheid die Volksabstimmung erst ermöglichte.

Genf - Palais Wilson 

Genf, Palais Wilson

1. Umsetzung einer alten Vision

Die grandiose Idee einer friedenstiftenden, länderübergreifenden Staatengemeinschaft kursierte schon seit Jahrhunderten, nahm aber am Ende des 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts immer konkretere Formen an. Ein erfolgsversprechender Umsetzungsversuch wurde unmittelbar nach Ende des verheerenden Weltkriegs unternommen. Ein weiterer internationaler Grosskonflikt sollte mit einer weltumspannenden Ländervereinigung verhindert werden. Das Projekt war Teil des Versailler Vertrags bzw. der Friedenskonferenz von Paris, was die praktikabelste Variante war, wegen der Dominanz der Siegermächte aber auch eine Hypothek.

Der schwierigste Teil bei solch grossen Unterfangen ist stets jener, das schöne Ideal in eine umsetzbare und breit akzeptierte Form zu giessen. Hierzu wurden von vielen Seiten zahlreiche Vorschläge eingebracht. Auch die Schweiz, die sich in Fragen der internationalen Völkerverständigung nicht ohne Grund als Expertin verstand, legte wohldurchdachte Ideen vor. Diese waren von einer hierfür eingesetzten Kommission ausgearbeitet worden. Allerdings fanden die von der Schweiz eingebrachten Vorschläge nicht die erhoffte Aufnahme in die Statuten der Organisation, und auch ihrem Gesuch um Teilnahme an den Friedensverhandlungen wurde nicht entsprochen.

 

2. Botschaft des Bundesrates in unruhigen Zeiten

Dennoch blieb der Bundesrat überzeugt, dass ein Beitritt zum Völkerbund für das Land insgesamt von Vorteil sei. Er beauftragte den renommierten Völkerrechtler Max Huber mit der Ausarbeitung eines Botschaftsentwurfs. Die umfassende Vorlage, die der Bundesrat dann am 4. August 1919 der Bundesversammlung präsentierte, enthielt als grosse Besonderheit die Bestimmung, dass der Entscheid des Parlamentes dem obligatorischen Referendum zu unterstellen sei. Ungewöhnlich war dies, denn bis anhin hatten Bundesrat und Parlament dem Volk in wichtigen Belangen der Aussenpolitik noch nie das letzte Wort belassen. Unübliches ereignete sich in diesen unruhigen Jahren indes nicht selten, und manche politische Gewissheit und eingespielte Gepflogenheit geriet damals ins Wanken: Noch sass der Schrecken tief über den brutalen Krieg von bislang unerreichter Dimension, der um das Land herum gewütet hatte; noch trauerte man um die über 24 000 Opfer in der Schweiz, welche eine tödliche Grippeepidemie –  fälschlicherweise als die "Spanische" bezeichnet – gefordert hatte; noch waren die dramatischen Ereignisse rund um den Landesstreik nicht vergessen; und noch spekulierte man darüber, wie sich die im Herbst 1918 angenommene Volksinitiative "Proporzwahl des Nationalrates" auf die Wahlen vom Oktober 1919 und die politischen  Machtverhältnisse auswirken würde.

Verhandlungsdelegation Bundesrat

 

Verhandlungsdelegation zum Völkerbund mit den BR Ador (vorne links) und Motta (vorne Mitte).

3. Erste Debatte in alter Zusammensetzung

Nach mehreren Verschiebungen, aber noch in alter Besetzung mit freisinniger Dominanz, begann der Nationalrat am 11. November 1919 im Rahmen einer ausserordentlichen Session mit der Beratung der Vorlage, nachdem ein Ordnungsantrag auf erneute Vertagung klar abgelehnt worden war.

Die Mehrheit der vorberatenden Politischen Kommission trat für die Annahme des Bundesbeschlusses ein. Kommissionssprecher waren die Freisinnigen Carl Spahn und Achille Borella sowie der Liberale Aloïs de Meuron. Der Mehrheit standen zwei Minderheiten gegenüber: Die Minderheit I des Schwyzer Konservativen Josef Ferdinand Büeler lehnte einen Beitritt der Schweiz zum Völkerbund grundsätzlich ab; die Minderheit II des Freisinnigen Emil Keller wollte mit einem allfälligen Beitritt noch zuwarten. Weiter lag ein Einzelantrag des ebenfalls Freisinnigen Emil Zürcher vor. Er war auch gegen den sofortigen Beitritt, wollte aber zudem den Bundesrat zu Nachverhandlungen verpflichten, um u. a. die klare Zusicherung des Völkerbunds zu erreichen, dass die Schweiz bei einem Beitritt ihre militärische Neutralität vollumfänglich würde wahren können.

 

4. Positionsbezug der Beitrittsbefürworter

Die Vertreter der Mehrheit, Bundesrat Calonder und die weiteren befürwortenden Redner folgten im Grundsatz der bereits in der Botschaft aufgeführten Argumentation. Sie basierte auf hohen Erwartungen an die neue Organisation. Diese wurde als grossartiger und ernsthafter Versuch präsentiert, das Ideal der weltweiten Friedenssicherung umzusetzen. Für die Befürworter stand ausser Zweifel, dass es dazu keine Alternative gab. In jedem Fall sei es die bessere Option als das bisher herrschende Faustrecht, um den Frieden längerfristig zu sichern. Der Völkerbund stelle hinsichtlich der Verbesserung zwischenstaatlicher Beziehungen und künftiger Konfliktlösungen einen klaren Fortschritt dar. Die Kriegsgefahr werde durch ihn gemindert, und er werde eine generelle Abrüstung mit sich bringen – so gaben sie sich überzeugt.

Nüchterner merkten sie zudem an, dass die Gründung des Völkerbunds zweifellos auch ohne Beteiligung der Schweiz erfolgen werde. Mit der Zeit werde er einen beachtlichen Teil der Menschheit und die meisten Staaten, darunter auch die neutralen, umfassen. Die Befürworter machten mit Blick auf die Ratslinke zudem geltend, dass der Völkerbund eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen anstrebe, womit auch soziale Forderungen berücksichtigt würden.

Die Völkerbundsbefürworter kamen nicht umhin, auch die heikle Neutralitätsfrage anzusprechen. Da sich die Schweiz zumindest an den wirtschaftlichen Sanktionen würde beteiligen müssen, hatte der Bundesrat in seiner Botschaft das Konzept einer flexibleren Form der Neutralität – als "differenzielle Neutralität" bezeichnet – präsentiert. Generell in Abrede stellten die Befürworter, dass damit eine Gefährdung der Unabhängigkeit verbunden sei. Sie argumentierten, dass die schweizerische Neutralität bei einem Beitritt auf höchster internationaler Ebene formelle Anerkennung finden würde. Die Neutralität dürfe aber nicht als starres Prinzip verstanden, sondern müsse den gegebenen Verhältnissen angepasst werden. Das sei eigentlich de facto bereits während des Weltkriegs geschehen, wo nur die militärische, nicht aber die wirtschaftliche Neutralität habe gewahrt werden können. Bleibe die Schweiz der Organisation fern, so laufe sie Gefahr, ihr hohes Ansehen und ihre internationale Stellung einzubüssen.

Im Wissen um das Gewicht wirtschaftlicher Kriterien bei der Meinungsbildung hoben die Befürworter die entsprechenden Risiken eines Nichtbeitritts hervor. Dabei warnten sie vor einer drohenden Selbstisolierung mit entsprechend negativen Folgen für die ökonomische Entwicklung. Bei einem Beitritt hingegen würden die Kommunikations- und Handelswege für die Schweiz offengehalten.

Als ganz konkrete Folge eines Nichtbeitritts bezeichneten die Vertreter der Mehrheit die Gefahr, dass dann Genf nicht, wie es sich abzeichnete, zum Sitz der Organisation bestimmt würde. Weiter mahnten sie, dass bei einem ablehnenden Entscheid der bereits während des Weltkriegs entstandene Graben zwischen der Romandie und der Deutschschweiz vertieft werden könnte. Letztlich wiesen sie darauf hin, dass der Völkerbund, der noch nicht vollkommen sei, mit der Zeit reformiert werden könne. Solche Verbesserungen könne man aber nur als Mitglied anregen und mitgestalten. Letztlich könne die Schweiz bei Bedarf auch wieder aus dem Völkerbund austreten.

Abstimmungsplakat Beitritt zum Völkerbund

 

5. Replik der Beitrittsgegner

Die Beitrittsgegner stellten die sensible Frage der Neutralität ins Zentrum ihrer Argumentation: Die strikte Neutralität sei ein Erfolgsmodell und habe die Schweiz in der Vergangenheit vor viel Unglück bewahrt.  Mit dem Rat von Bruder Klaus, "Mischt euch nicht in fremde Händel!", sei man gut gefahren. Unparteilichkeit und Neutralität könnten bei einem Beitritt zum Völkerbund indes nicht aufrechterhalten werden, da man in einem Konflikt auf internationaler Ebene als Mitgliedsstaat und aufgrund der Beteiligungspflicht an den Sanktionsmassnahmen zwangsläufig als Partei wahrgenommen würde.

Im Völkerbund sahen die dessen Skeptiker nicht eine Friedensorganisation, sondern ein Konstrukt der Siegermächte, um ihre im Krieg gewonnene internationale Stellung längerfristig zu sichern. Die Organisation widerspreche dem Prinzip der Gleichberechtigung der Staaten. Dieser Staatenbund basiere nicht auf Gerechtigkeit, sondern auf Machtpolitik. Er erhöhe die künftige Kriegsgefahr mehr als er sie mindere.

Weiter riefen sie in Erinnerung, dass die Schweizer Vorschläge nicht berücksichtigt worden seien. Dies galt ihnen als Beispiel dafür, dass auch der künftige Einfluss der kleinen Schweiz im Völkerbund minim wäre. Die Organisation werde von den fünf Hauptmächten im Völkerrat geleitet, und in der Völkerversammlung habe die Schweiz nur gerade eine von 50 bis 60 Stimmen.

 Zudem stellten sie in Abrede, dass ein Beitritt wirtschaftliche Vorteile mit sich bringen würde, wobei sie darauf hinwiesen, dass selbst der Bundesrat in seiner Botschaft nicht von solchen ausgegangen sei.

Zu diesen Gegenargumenten, die vor allem von bürgerlich-konservativen Politikern vorgetragen wurden, kamen noch jene hinzu, die spezifisch von Sozialdemokraten ins Feld geführt wurden. Diese bezeichneten den Völkerbund als kapitalistisch-imperialistisches Gebilde, das einzig dazu diene, die dem Untergang geweihte kapitalistische Gesellschaftsordnung noch länger am Leben zu erhalten. Der Völkerbund sei ein reaktionärer Bund, der insbesondere gegen emanzipatorisch-revolutionäre Bewegungen wie die Russische Revolution ausgerichtet sei.

Auch die Sozialdemokraten erblickten im Völkerbund kein Friedensprojekt: Die Ursache von Kriegen, nämlich die Zerstörung der ausländischen Konkurrenz und die Eroberung neuer Märkte, werde keinesfalls beseitigt, sondern vielmehr befördert. Der Völkerbund werde vom Grosskapital und nicht von gewählten Repräsentanten des Volkes gelenkt. Erst wenn sich der Sozialismus vollständig durchgesetzt habe, werde eine supranationale Organisation die Völkerverständigung und den Frieden sichern können.

Abstimmungsplakat Beitritt Völkerbund

 

6. Zustimmung mit Einbezug der "Amerika-Klausel"

Nach langer Eintretensdebatte, in welcher auch zahlreiche Argumente wiederholt, vertieft und mit Beispielen angereichert wurden, kam es zur Ausmarchung. Die Minderheitsanträge, welche aus grundsätzlichen oder spezifischen Überlegungen einen Beitritt verhindern wollten, wurden deutlicher abgelehnt, als es die Länge und Intensität der Debatte hätten vermuten lassen: Der Nationalrat trat mit 124 zu 45 Stimmen klar auf die Vorlage ein.

Daraufhin nahm der Rat, bestärkt durch den Bundesrat, fast einstimmig eine Ergänzung an, die sich als folgenschwerer erweisen sollte, als wohl von den meisten vermutet worden war. Der entsprechende Zusatz besagte, dass die Volksabstimmung erst stattfinde, wenn die fünf Hauptmächte dem Völkerbund beigetreten seien. Es handelte sich um die sogenannte Amerika-Klausel, denn jenseits des Atlantiks, in den USA, war der Beitritt ebenfalls noch nicht beschlossene Sache. Die Befürworter hatten indes wenig Zweifel, dass die Vereinigten Staaten, deren Präsident Wilson ja den Anstoss für die Gründung eines Nationenverbands gegeben hatte, dem Völkerbund schliesslich beitreten würden. Mit Aufnahme der Amerika-Klausel rechneten sie sich hingegen bessere Chancen bei der Volksabstimmung aus. Für die Gegner der Vorlage stellte die Bestimmung eine weitere Chance zur Verhinderung des Schweizer Beitritts dar.

Nach einmütiger Annahme der Amerika-Klausel im Nationalrat trat in der Gesamtabstimmung das Kräfteverhältnis zwischen Beitrittsgegnern und -befürwortern erneut zutage: Der Bundesbeschluss wurde mit 128 zu 43 Stimmen deutlich angenommen. An der Schlussabstimmung vom 21. November 1919 war das Verhältnis bei 86 Ja- zu 30 Nein-Stimmen ähnlich, wobei es viel mehr Abwesenheiten bzw. Enthaltungen gab. Im Ständerat, der weniger lange debattiert hatte, ging die Vorlage mit 23 zu 6 Stimmen durch.

 

7. Zweite Debatte unter veränderten Voraussetzungen

Am 10. Januar 1920 wurde der Völkerbund in der Schweiz, aber ohne die Schweiz, ins Leben gerufen. Genf hatte sich als Sitz letztlich durchsetzen können, obwohl der Gastgeberstaat der der Organisation noch nicht beigetreten war. Da stand im Frühjahr 1920 die entscheidende Runde im Parlament in Bezug auf einen allfälligen Beitritt an. Die Ausgangslage hatte sich für die Schweiz in der Zwischenzeit in dreierlei Hinsicht verändert:

Erstens hatte die Proporzwahl grosse Veränderungen im Nationalrat zur Folge gehabt. Die Freisinnigen büssten über einen Drittel ihrer Sitze und damit ihre absolute Mehrheit ein, während die Sozialdemokraten ihre Sitzzahl mehr als verdoppeln konnten. Neu war die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, Vorgängerin der SVP, im Parlament vertreten, und zwar gleich mit 25 Sitzen.

Zweitens verweigerte in den USA der Senat die Ratifizierung des Völkerbundvertrags, womit für die Schweiz ohne Aufhebung der Amerika-Klausel ein Beitritt nicht möglich war.

Drittens hatte die Schweiz in Verhandlungen mit dem Völkerbund erreicht, dass bei einem Beitritt die differentielle Neutralität anerkannt würde, sie sich konkret also nur an wirtschaftlichen, nicht aber an militärischen Sanktionen würde beteiligen müssen.

So kam es mit derart neu gemischten Karten Ende Februar und Anfang März 1920 zu den entscheidenden Runden in den beiden Parlamentsräten. Dabei ging es um die Frage, ob die Amerika-Klausel aufzuheben sei, die Schweiz also dem Völkerbund auch ohne die Mitgliedschaft der USA beitreten solle oder nicht. Die Diskussion wurde, die wahrscheinliche Volksabstimmung vor Augen, mit noch mehr Pathos geführt. Von beiden Seiten wurden erneut die Grundsatzargumente aus der ersten Debatte vorgebracht. Die vielen neuen Ratsmitglieder und die veränderte Ausgangslage hatten aber zur Folge, dass auch andere Schwerpunkte gesetzt und neue Aspekte eingebracht wurden.

 

8. Zwei Argumentationslinien der Minderheit

Die Minderheit bzw. die Beitrittsgegner hatten für die zweite Debatte im Nationalrat keinen Sprecher bestimmt, da sie den Beitritt z. T. aus unterschiedlichen Motiven ablehnten. Als Wortführer traten u. a. der Katholisch-Konservative Alfons von Streng, Rudolf Arnold Gelpke von der BGB sowie Friedrich Schneider von der SP hervor. Für Letztere ging auch Robert Grimm ans Rednerpult, der kurz zuvor seine sechsmonatige Gefängnisstrafe infolge der Mitorganisation des Landesgeneralstreiks abgesessen hatte. Im Ständerat war Friedrich Brügger von der Katholisch-konservativen Volkspartei Sprecher der ablehnenden Minderheit.

Die Beitrittsgegner hoben natürlich das Fernbleiben der Grossmacht USA hervor und sprachen demzufolge dem Völkerbund den Charakter einer übergreifenden Weltorganisation ab. Es handle sich vielmehr um eine Gruppierung bestimmter Mächte, die bald eine Gegengruppierung hervorrufen werde. Sie erinnerten auch an die Worte von Bundesrat Calonder aus der Debatte vom November 1919, dass die Vorlage erst dann vors Volk kommen solle, wenn alle Grossmächte dem Völkerbund beigetreten seien.

Weiter gaben sie zu bedenken, dass aus der Geschichte kein einziges Beispiel für eine derartige Vereinigung völlig verschiedener Staaten mit ganz unterschiedlichen Systemen und Völkern bekannt sei. Bei einem Beitritt drohe neben der Preisgabe der bewährten Neutralität auch der Verlust der staatlichen Individualität und des nationalen Gemeinschaftsgefühls, womit eine allgemeine Entwurzelung verbunden wäre.

An die noch Unentschlossenen richteten die Gegner das Argument, dass die Schweiz, sollte sich das Völkerbundskonstrukt mit der Zeit demokratisieren und wider Erwarten bewähren, der Organisation später immer noch würde beitreten können. Für einen reinen Bluff der Beitrittsbefürworter hielten sie deren Warnung, dass ein Fernbleiben wirtschaftliche Konsequenzen und internationale Isolierung nach sich ziehen werde.

Wiederum verfolgte die im Parlament erheblich gestärkte SP eine – zumindest in Teilen – eigene Argumentationslinie.  Zusätzlich zur erneuten Kritik am kapitalistischen Zweck des Völkerbunds bemängelten sie, er sei nicht demokratisch und gerecht aufgebaut; vielmehr gebe es Mitglieder erster, zweiter und dritter Klasse. Die verwerfliche Praxis der Geheimverträge und Geheimdiplomatie werde nicht abgeschafft, sondern vielmehr gefördert. Mit der Ablehnung des bestehenden Völkerbundes könne die Schweiz hingegen ihre moralische Position auf internationaler Ebene stärken. Ferner wurde auch von sozialistischer Seite behauptet, der Völkerbund diene dazu, den Siegermächten die im Weltkrieg gemachte "Beute" zu sichern.

Plakat Volksabstimmung  Beitritt Völkerbund

 

9. Begründung des Mehrheitsantrags

Seitens der Beitrittsbefürworter traten im Nationalrat die Kommissionssprecher Robert Forrer von der FDP und erneut Aloïs de Meuron von den Liberalen auf. Berichterstatter im Ständerat war der Freisinnige Peter Isler. Die befürwortende Position des Bundesrates wurde von Giuseppe Motta, dem Vorsteher des Politischen Departementes, sowie von Volkswirtschaftsminister Edmund Schulthess vertreten.

Hinsichtlich der Amerika-Klausel versuchten die Befürworter, die Bedeutung der Nichtmitgliedschaft der USA herunterzuspielen. Sie zeigten sich zudem überzeugt, dass die Vereinigten Staaten dem Völkerbund zu einem späteren Zeitpunkt noch beitreten würden. Ihr Hauptargument blieb, dass die Abwägung aller Vor- und Nachteile letztlich einen Beitritt aufdränge. Man könne nicht erwarten, von den Vorteilen der neuen Weltorganisation profitieren zu können, ohne selber Pflichten übernehmen zu wollen. Zwar seien hinsichtlich der wirtschaftlichen Neutralität gewisse Konzessionen zu machen, aber auch wenn die Schweiz nicht beitrete, werde sie bei einem internationalen Konfliktfall nicht konsequent und in jeglicher Hinsicht unparteiisch bleiben können.

Die Befürworter sprachen wiederholt auch die noblen Ziele der überstaatlichen Organisation an. Sie sahen in der Gründung des Völkerbunds einen logischen Schritt in der Evolution der zwischenstaatlichen Beziehungen. Die weltweite Herrschaft des Rechts, welche so auf internationaler Ebene gefestigt werde, liege auch im Interesse der Schweiz und sei der beste Schutz für ihre Neutralität.  Weiter verwiesen sie auf das Beispiel vieler anderer Staaten: Diese seien auch stolz auf ihre Unabhängigkeit, was sie nicht daran gehindert habe, dem Völkerbund beizutreten. Die Eidgenossenschaft selber sei aus ganz unterschiedlichen Kantonen und Regionen zusammengesetzt. Auch mit der Bundesverfassung hätten die Stände ihre Eigenheiten bewahren können. Genau gleich verhalte es sich mit den unterschiedlichen Mitgliedsstaaten des Völkerbunds, die ihre Besonderheiten und ihren Charakter nicht preisgeben müssten. Das Prinzip der Einstimmigkeit im Völkerrat garantierte, dass auch kleine Staaten ihren Einfluss geltend machen könnten.

Auch an Warnungen liessen es die Befürworter nicht fehlen: Wenn man jetzt nicht beitrete, drohe die internationale Ächtung und handelspolitische Isolierung. Später werde man vielleicht um eine Aufnahme betteln müssen.

 

10. Der Parlamentsentscheid

Die grossen Debatten endeten am 3. März im Nationalrat und am 5. März 1920 im Ständerat. Nach engagierter Diskussion entschieden am Ende die nüchternen Zahlen, und diese sprachen erneut sehr klar für die Beitrittsbefürworter: Der Antrag der Mehrheit wurde im Nationalrat mit 115 zu 55 Stimmen und im Ständerat mit 30 zu 6 Stimmen angenommen. 

Alle Fraktionen ausser der SP stimmten deutlich für den Mehrheitsantrag. Bei den Sozialdemokraten votierten 37 ihrer 41 Nationalräte für den Antrag der Minderheit, womit sie über zwei Drittel der Beitrittsgegner stellten. Die Katholisch-Konservativen hatten insgesamt ebenfalls 41 Nationalräte, doch nur 8 von ihnen schlossen sich der Minderheit an. Aus den Reihen der 25 BGB-Nationalräte scherten gar nur 2 aus und aus jenen des Freisinns lediglich 4 von 61.

Debatte im Nationalrat

Debatte im Nationalrat


11. Abstimmungskampf und Volksentscheid

Auch wenn sich in der folgenden ausserparlamentarischen Abstimmungsdiskussion die konservative Beitrittsgegnerschaft deutlicher bemerkbar machte als im Bundeshaus, so blieben die beiden Lager doch sehr heterogen und können nicht einfach in das Links-Rechts-Schema eingeordnet werden. Im intensiven Abstimmungskampf und in den jeweiligen Komitees engagierten sich auf der befürwortenden Seite viele Liberale und Freisinnige, nicht wenige Konservative und einige Linke. Für ein Ja warben auch die meisten Bauernvertreter, begeistert angeführt vom Bauernsekretär Ernst Laur. Auf gegnerischer Seite standen zahlreiche Konservative – so z. B. der ehemalige Generalstabschef Theophil Sprecher von Bernegg –, viele Sozialisten, einige Freisinnige sowie mehrere Unabhängige. Zu Letzteren zählte auch der Schriftsteller Konrad Falke, einer der führenden Köpfe der Nein-Kampagne und später Nazi-Gegner der ersten Stunde.

An der Volksabstimmung vom 16. Mai 1920 sprach sich das Stimmvolk mit 416 870 gegen 323 719 Stimmen für den Beitritt zum Völkerbund aus, was einer Mehrheit von 56,3 Prozent entsprach. Das Ständemehr wurde bei 11,5 zu 10,5 Standesstimmen nur knapp erreicht. Die Stimmbeteiligung lag bei 77,5 Prozent. Sehr deutlich tat sich der Röstigraben auf: Obwohl die Vorlage in der Deutschschweiz abgelehnt wurde, kam sie dank der sehr hohen Zustimmung in der Romandie und im Tessin durch.

 

12. Scheitern des Völkerbunds

Die USA traten dem Völkerbund auch später nicht bei. 1924/25 präsidierte Bundesrat Giuseppe Motta die Völkerbundsversammlung. Von Anfang an kam der Bundesart bei Gesuchen des Völkerbunds um Durchfahrtsrechte, Sanktionsbeteiligungen und anderen Anfragen innenpolitisch in Bedrängnis. Seine entsprechende Politik wurde immer vorsichtiger und zurückhaltender.

Angesichts der sich verschärfenden internationalen Lage gab die Schweiz das Prinzip der "differenziellen Neutralität" auf und kehrte am 14. Mai 1938, mit Einwilligung des Völkerbundsrats, zur "integralen Neutralität" zurück. Damit war sie auch von der Teilnahme an wirtschaftlichen Sanktionen der Organisation entbunden.

Der Völkerbund selber hatte bis dahin, trotz einzelner positiver Resultate, sein Prestige und seine Glaubwürdigkeit bereits weitgehend eingebüsst, war er doch meist nicht in der Lage gewesen, zwischen- und innerstaatliche Konflikte zu verhindern. Auch in seinem Hauptzweck, der Verhinderung eines weiteren grossen Krieges, scheiterte er letztlich. Am 31. Juli 1947, einige Jahre, nachdem er de facto bereits bedeutungslos geworden war, wurde der Völkerbund formell aufgelöst.

Das Ende der Eidgenossenschaft, vor dem im Abstimmungskampf einige Beitrittsgegner gemahnt hatten, war durch die Mitgliedschaft der Schweiz im Völkerbund zwar nicht herbeigeführt worden, aber die Zeit in der Länderorganisation wurde insgesamt dennoch als negative Erfahrung gewertet. Dies trug viel dazu bei, dass die Schweiz der Nachfolgeorganisation des Völkerbunds, der UNO, 1945 nicht beitrat und in der Bevölkerung die Skepsis in Bezug auf überstaatliche Zusammenschlüsse noch jahrzehntelang dominierte.

 

Quellen

Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, 1919, Nationalrat, Bd. V, S. 759-955, 1000-1004; Ständerat, Bd. V, S. 554-626; 1920, Nationalrat, Bd. I,  S. 231-319; Ständerat, Bd. I, S. 13-46; 1920;  https://www.amtsdruckschriften.bar.admin.ch ;

Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Frage des Beitrittes der Schweiz zum Völkerbund vom 4. August 1919, Bern 1919. https://www.amtsdruckschriften.bar.admin.ch/viewOrigDoc/10027236.pdf?ID=10027236

Zala, Sacha; Perrenoud Marc (Hrsg.): La Suisse et la construction du multilatéralisme, Bd. 2, Documents diplomatiques suisses sur l'histoire de la Société des Nations 1918-1946, Bern 2019. https://www.dodis.ch/q14

Zusatzbotschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Frage des Beitritts der Schweiz zum Völkerbund. (Vom 17. Februar 1920.) https://www.amtsdruckschriften.bar.admin.ch/viewOrigDoc/10027441.pdf?ID=10027441

 

 

Literatur

Burnard, Frédéric: Vor 100 Jahren: Die Schweiz, der Völkerbund und die bolschewistische Hypothek, in: swissinfo.ch, 28.06.2019, https://www.swissinfo.ch/ger/schweiz-voelkerbund-bolschewismus-100-jahre/45058052 .

Moos, Carlo: Ja zum Völkerbund – Nein zur UNO. Die Volksabstimmungen von 1920 und 1986 in der Schweiz, Zürich 2001.

Koller, Christian: Vor 100 Jahren – Die Schweiz tritt dem Völkerbund bei, in: Sozialarchiv, 15.01.2020, https://www.sozialarchiv.ch/2020/01/15/vor-100-jahren-die-schweiz-tritt-dem-voelkerbund-bei/ .

Fleury, Antoine: Société des Nations (SdN) in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 15.04.2020, https://hls-dhs-dss.ch/fr/articles/026468/2015-04-15/ .

Ruffieux, Roland: L'entrée de la Suisse dans la Société des Nations: Analyse d'une décision, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 11/1961, S. 157-192.

Wehrli, Christoph: Zwiespalt des Neutralen im Völkerbund, in: Neue Zürcher Zeitung, 15.10.2019.

Bildnachweis
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