Es gilt das gesprochene Wort

 

Sie werden gerne übersehen … die beiden dunklen Bronzefiguren beim Haupteingang des Parlamentsgebäudes: Der alte Mann links und der Jüngling rechts sollen den Eintretenden bewusst machen, dass alles, was in diesem Haus beschlossen wird, bald Teil der Geschichte – unserer Geschichte – sein wird: So sind auch Ständeratspräsidentinnen oder Ständeratspräsidenten jeweils nach einem Jahr Vergangenheit. Entsprechend will es unsere Bundesverfassung in Art. 152. Und das scheint mir in dieser Form richtig und gut. Denn diese jährliche Rochade ist doch ein sinnvoller Ausdruck unseres föderalen Staatskonzepts.

Folglich wird in 12 Monaten mein Name der 194. auf der langen Liste der ehemaligen Ständeratspräsidenten seit Bestehen unseres Bundesstaates sein.

Für mich hingegen wird das Präsidialjahr ein aussergewöhnliches Ereignis und prägendes Erlebnis bleiben. Dafür, dass ihr mir dies ermöglicht, liebe Ratskolleginnen und Kollegen, bedanke ich mich bei Euch ganz herzlich. Ich bedanke mich für Euer Vertrauen und die Wertschätzung, die Ihr mir mit der Wahl zum Präsidenten unserer Kleinen Kammer entgegenbringt. Und ich versichere euch, ich werde alles daran setzen, die Sitzungen umsichtig und reibungslos zu leiten sowie unseren Rat würdevoll gegen aussen zu vertreten.

Ich bitte um Nachsicht, sollte der „pedantische" Lehrer hie und da zum Vorschein kommen. Aber zumindest fordert mich dieser Rat nicht mit der Aufgabe heraus, für Disziplin sorgen … und allenfalls Ende Jahr im Zeugnis Betragensnoten setzen zu müssen!

Ein grosser, inniger Dank geht an meine Frau sowie an meine Familie, die mir über all die Jahre immer Rückhalt gegeben und es mir damit überhaupt erst möglich gemacht haben, auf kommunaler, kantonaler und nationaler Ebene politisch tätig sein zu können. Sie mussten oft auf meine Anwesenheit verzichten, und das wird vermutlich im kommenden Jahr noch öfter der Fall sein.

Danken will ich auch all jenen, die heute mit mir nach Bern hierher ins Bundeshaus gekommen sind, um bei der Wahl dabei zu sein.   

Hochgeachteter Herr Landammann, es tut gut, sich der Unterstützung aus der Heimat gewiss zu sein und ich freue mich sehr darüber.

Zufall oder nicht… es sei dahingestellt: Sämtliche bisherigen Innerrhoder Ständeratspräsidenten stammen aus dem Bezirk Oberegg - einem Gemeinwesen, das vollständig von den Kantonen Appenzell Ausserrhoden und St. Gallen umschlossen ist und somit fernab vom Hauptort Appenzell eine Enklave bildet. Nach Armin Locher (1954/55) und Carlo Schmid-Sutter (1999/2000) fällt nun auch mir diese Ehre zu. Ich überlasse es gerne anderen, Schlüsse daraus zu ziehen. Ich erlaube mir stattdessen, meinen Kollegen aus dem Nationalrat, Landammann Daniel Fässler, zu zitieren, welcher in anderem Zusammenhang einmal bemerkte: «Das soll uns erst einmal einer nachmachen».

 

Chers Collègues

Ma gratitude va également à mon prédécesseur. Cher Raphaël, j’ai vécu une année très intéressante et enrichissante à tes côtés. Nous nous sommes si bien entendus que notre respect et notre sympathie mutuels se sont mués en amitié.

Tes collègues se faisaient un peu de souci avant ton entrée en fonction. Tu es toujours si calme le matin, comme si le marchand de sable venait seulement de passer. Ils t’ont offert un gros réveil, tu t’en souviens. Précaution inutile. Tu nous es apparu sous les traits de Maître Hora, sauveur de temps. Tu as conduit les débats de manière souveraine, sans jamais céder à la précipitation, assurant aux intervenants tout le temps désiré et tenant l’horaire avec une précision toute neuchâteloise. Tu as tout de même réussi à faire transpirer celles et ceux parmi tes collègues qui n’ont pas bénéficié de cours de français à l’école primaire. C’était ta revanche!

Est-ce par hasard que tu as repris ton souffle à la Landsgemeinde d’Appenzell, lors de ton Tour de Suisse? Dans les Rhodes Intérieures, pionnières de l’anglais précoce, ton charme «welsch» conquis tout un chacun. Cher Raphaël, je te le dis en toute amitié confédérale: Grâce à toi le far-ouest romand n’est plus si loin et je t’en remercie.

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen
Geschätzte Damen und Herren

Mein Präsidialjahr habe ich unter das Motto «Klein, aber wertvoll» gestellt. Einige von Ihnen werden sich denken: Ganz schön selbstbewusst für den Vertreter eines Standes von knapp 16‘000 Einwohnern, der bis zur Totalrevision der Bundesverfassung von 1999 noch als Halbkanton bezeichnet wurde.

«Wertvoll» bedeutet jedoch nicht nur von hohem materiellem, künstlerischem oder ideellem Wert, sondern es bedeutet auch nützlich und hilfreich.

Ja, ich bin vollends davon überzeugt, dass jeder Kanton, so klein er auch sein mag, einen wichtigen und äusserst nützlichen… eben einen «wertvollen» Beitrag an und für unser Land leistet. Keine literarische Textstelle bringt dies anschaulicher zum Ausdruck als die Rede des jungen Karl Hediger in Gottfried Kellers Novelle «Das Fähnlein der sieben Aufrechten»: «Wie kurzweilig ist es, dass es nicht einen eintönigen Schlag Schweizer, sondern dass es Zürcher und Berner, Unterwaldner und Neuenburger, Graubündner und Basler gibt, und sogar zweierlei Basler! Dass es eine Appenzeller Geschichte gibt und eine Genfer Geschichte!»

Gewisse Kantone haben nicht nur eine, sondern zwei Geschichten. Die des ursprünglich gemeinsamen Landes Appenzell nahm mit der Landteilung von 1597 eine einschneidende Wende. Erstaunlich, dass sich auf so kleinem Raum zwei unterschiedliche Mentalitäten entwickeln konnten, zumal, oberflächlich gesehen, die beiden Kantone ähnlich erscheinen. Dass sich die Appenzeller Katholiken und Protestanten damals ohne Brudermord trennten, war ein Akt der Vernunft, war weise, wenn auch untypisch für jene Zeit. Innerrhoder und Ausserrhoder seien zwar «nicht ein Herz und eine Seele, aber zwei Herzen und zwei Seelen unter einem grossen schwarzen Bären», betonte der bekannte Germanist Prof. Peter von Matt in Anlehnung an das Wappentier beider Kantone anlässlich der Feier zur 500-jährigen Zugehörigkeit zur Eidgenossenschaft.

Dieser weise Entscheid, dieser Akt der Vernunft, hatte sehr viel mit dem Selbstverständnis der beiden Kantone und dem respektvollen Umgang mit der ursprünglich ja gemeinsamen Geschichte zu tun. Dazu gehört bis zum heutigen Tag der Verzicht auf ein rücksichtsloses Durchsetzen der zahlenmässigen Mehrheit einerseits, dafür aber die gelebte Toleranz gegenüber den Freiheiten, den Rechten und den Bräuchen der Landsleute im anderen Kanton andererseits. Es bestand und besteht der feste Wille zu allgemeinverträglichen Lösungen und ein tiefer Sinn für den politischen Diskurs.

Alle diese Eigenschaften widerspiegeln sich auch in einem grösseren Gefüge – nämlich in unserer Eidgenossenschaft.

 

Chers Collègues

La Suisse prend soin de la diversité qu’elle a héritée de son histoire. Elle veille sur les multiples facettes qui font sa richesse. Chaque canton, chaque région, chaque minorité est une pièce de l’identité du pays. Comprendre nos spécificités et la signification de nos différences ne va pas de soi. Cela demande une attention constante. Le Conseil des Etats est un acteur majeur de cette prise de conscience. Sa vocation n’est plus seulement, comme à l’origine, de contrer les tendances centralistes. Ce Conseil apporte aujourd’hui une contribution essentielle aux enjeux d’un Etat dynamique et fédéraliste. Car, les sénateurs savent que l’Etat ne peut se construire que de bas en haut, sur de solides fondations.

Vor rund einem Monat haben sich hier im Bundeshaus Europas Senatspräsidenten getroffen. Alle zweiten Kammern – mit Ausnahme der Schweiz und (noch) Italien – verfügen über weit weniger Kompetenzen als ihre Nationalversammlungen und der Ruf nach ihrer Abschaffung ist vielerorts ein Evergreen. Es lag verständlicherweise auf der Hand, dass die Senatspräsidenten an der hiesigen Konferenz nicht in dieses Lied einstimmen würden. Im Gegenteil. Sie betonten die zunehmend wachsende Bedeutung der Zweiten Kammer ihres Rates, die in einem zusammenwachsenden Europa und einer enger vernetzten Welt wichtiger denn je werde. Ihre Vertretung in den Parlamenten sichert die föderalen und bundesstaatlichen Interessen in vielen europäischen Ländern.

Der Föderalismus - sehr geehrte Damen und Herren - ist kein Auslaufmodell, sondern weltweit im Aufwind. Diesen Schluss zieht übrigens auch das Institut für Föderalismus der Universität Freiburg. Föderale und dezentrale Strukturen sind Garanten für Minderheitenschutz und vor allem auch für eine dringend notwendige Bürgernähe. Zusammen mit der direkten Demokratie, die Volksinitiativen und Referenden zulässt, ist der Föderalismus einer der tragenden Pfeiler des politischen Systems in der Schweiz.

In seinen ‘Weltanschaulichen Betrachtungen‘ hielt der Basler Historiker Jacob Burckhardt bereits vor 120 Jahren fest: «Der Kleinstaat ist vorhanden, damit ein Fleck auf der Welt sei, wo die grösstmögliche Quote der Staatsangehörigen Bürger im vollen Sinne sind.» Daran hat sich bis heute nichts geändert.

 

Geschätzte Kolleginnen und Kollegen

Der Zufall will es, dass in diesem Jahr die beiden Präsidenten von National- und Ständerat aus Kantonen stammen, die gegensätzlicher nicht sein könnten: Da ist auf der einen Seite Zürich - urban, international, ein Wirtschaftsmotor, ein Banken- und Kulturplatz, grösster NFA-Nettozahler und mit knapp 1,5 Millionen der bevölkerungsreichste Kanton der Schweiz. Auf der anderen Seite Appenzell Innerrhoden - klein, beschaulich, ländlich, äusserst traditionsbewusst, konservativ im besten Sinne, und mit rund 16‘000 Einwohnern der Kanton mit der geringsten Bevölkerungszahl unseres Landes.

Diese Ausgangslage zwingt uns geradezu, dem abstrakten Gebilde ‘Willensnation‘ ein Gesicht zu geben. Der Willensnation, die ohne Föderalismus weder existieren noch weiter Bestand haben kann. Es ist eminent wichtig – und davon bin ich zu tiefst überzeugt – die Grundidee hinter unserem Bundesstaat und die damit verbundene politische Kultur wieder verstärkt ins Bewusstsein zu rücken!   

Die Voraussetzungen, die einst die Willensnation begründeten, sind im Begriffe, sich in einer gefährlichen Art und Weise zu relativieren. Denken wir an die Kantone, die an Eigenprofil verlieren, denken wir an die Sprache, die Religion und denken wir an den Wandel des Minderheitsbegriffs. Wir müssen aufpassen, dass wir unsere Kompromissfähigkeit nicht verlieren, weil egoistisches Machtdenken und das Beharren auf radikalen Positionen in einer Mediendemokratie effektvoller erscheinen.

Bewusst geschürte Polemik und reines Spektakel – geschätzte Kolleginnen und Kollegen – zerstören auf die Dauer unsere politische Diskussions- und Streitkultur und somit auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik ganz allgemein und in die aktuelle Politik im Besonderen. Mit unserem auf Konsens und Kompromiss ausgerichteten politischen System hatten wir bisher Erfolg, und das anerkennen auch die Stimmberechtigten. Denn wie lässt sich anders erklären, dass von den 859 Erlassen, die zwischen 2001 und 2015 verabschiedet wurden, nur gerade neun Mal eine Volks-Mehrheit den Entscheid des Parlaments umgestossen hat?

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen
Geschätzte Damen und Herren

Tragen wir bewusst Sorge zur bewährten Debattenkultur in unserem Ständerat und lassen wir uns nicht vom eigentlichen Zeitgeist der Effekthascherei anstecken. Denn komplexe Herausforderungen, mit denen wir uns zunehmend konfrontiert sehen, lassen sich in unserer Konkordanz-Demokratie nicht nach einem einfachen Schwarz-Weiss-Schema lösen, sondern nur mit einem gewissen Grundkonsens. Auch wenn die Suche nach einem solchen Konsens vielfach schwierig und zeitraubend ist, der Aufwand und unser Einsatz lohnen sich. Nur dann nämlich haben wir Gewähr, dass die hart erarbeiteten Lösungen zu guter Letzt über ein sicheres Fundament verfügen und vor allem auch politisch eine breite Unterstützung geniessen.

 

Geschätzte Kolleginnen und Kollegen

Zu Beginn meiner Ausführungen habe ich auf die beiden Bronzestatuen am Portal des Parlamentsgebäudes hingewiesen: der Greis als Geschichtsschreiber der Vergangenheit und der Jüngling als Geschichtsschreiber der Gegenwart. Der alte Mann mit dem aufgeschlagenen Buch auf seinen Knien ermahnt und erinnert vor allem uns Parlamentarierinnen und Parlamentarier daran, dass es unerlässlich ist, auch die Abmachungen und die Gesetzestexte ernsthaft zu beachten, die in der Vergangenheit ausgehandelt worden sind.   

Der junge Chronist schreibt alles, was er von unserer aktuellen Arbeit sieht und hört in sein Heft für die Nachwelt und die kommenden Generationen nieder. Wir tun also bei all unserer Tätigkeiten gut daran, uns diese enorme Verantwortung immer wieder zu vergegenwärtigen.

Nehmen wir diesen Auftrag gemeinsam an und stellen wir uns den uns anvertrauten Herausforderungen… zwar mit dem nötigen Respekt, vor allem aber mit berechtigtem Optimismus.

Ich freue mich sehr auf unsere konstruktive und von echter Kollegialität geprägter Zusammenarbeit und bedanke mich noch einmal herzlichst für die Wahl – je vous remercie – grazie mille - grazia fitg!

 

Oberegg, 28. November 2016
Ivo Bischofberger