Es gilt das gesprochene Wort

 

​Ich freue mich, Sie alle hier in Wil, meiner Heimatstadt, willkommen zu heissen. Viele von Ihnen haben mich auf meinem Weg – sei dies privat oder im politischen oder beruflichen Umfeld begleitet und sind und waren mir dabei wertvolle Stützen und auch konstruktive Kritikerinnen und Kritiker.

Je vous remercie d’être venus si nombreux ici à Wil, ma ville natale. J’apprécie particulièrement la présence de tant de collègues venus de Suisse romande et du Tessin. Les festivités autour des élections dans les présidences des différentes institutions de notre pays nous donnent l’occasion de nous rencontrer dans nos régions d’origine respectives. Ces rencontres contribuent ainsi à mieux nous connaître et nous comprendre mutuellement. Dans notre pays plurilingue ceci constitue une valeur extraordinaire. Merci beaucoup!

Es ist schön, Sie alle hier in der Stadtkirche zu sehen. 1964 wurde ich hier auf den Namen Katharina Maria getauft – Karin fand der damalige Stadtpfarrer für ein katholisches Mädchen unpassend. Und hier wird wahrscheinlich einmal meine Abdankungsfeier stattfinden. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin nicht schwermütig. Ich bin mir ganz einfach bewusst, dass uns alles, was wir sind und was wir haben, auf Zeit gegeben ist. Und so ist es auch mit dem Ständeratspräsidium. Es ist zeitlich auf ein Jahr befristet und das ist gut so, denn die Stärke unseres Landes liegt in unseren Institutionen. Sie überdauern die Menschen, die eine Aufgabe erfüllen oder ein Amt ausüben. Ich freue mich denn auch, dass mein Nachfolger Jean-René Fournier hier ist, dessen Wahl wir nächstes Jahr im Wallis feiern werden. Damit ist alles geregelt. Dieses doch einzigartige System, das keine Lücken zulässt, garantiert die Stabilität unseres Landes und dient der Machtteilung. Unseren Institutionen müssen wir deshalb gemeinsam Sorge tragen. Natürlich sind wir Menschen es, die die Institutionen in unserem Land beleben, indem wir Verantwortung übernehmen, indem wir mitgestalten, uns für unsere Ideale und Werte engagieren. Doch vergessen wir dabei nicht, dass uns diese Arbeit treuhänderisch auf Zeit anvertraut ist und dass wir alle nicht unersetzlich sind.

Geschätzte Gäste
Ich freue mich, dass Sie heute einen Teil meines Heimatkantons St. Gallen entdecken können. Jene, die mit dem Zug aus Bern gekommen sind, haben die gewichtigsten St. Galler bereits kennen gelernt. Mir waren der Halt in Rapperswil und dann die Fahrt durch das Toggenburg nach Wil wichtig, um Ihnen auch einen kleinen Einblick in die unterschiedlichen Gegenden im St. Gallerland zu geben. Gottfried Keller schrieb einst: «Ei, was wimmelt da für verschiedenes Volk in engem Raume. Welche Schlauköpfe und welche Mondkälber laufen da nicht herum, welch Edelgewächs und welches Unkraut blüht da nicht lustig durcheinander und alles ist gut und herrlich, denn es ist im Vaterland.» Was Keller für die Schweiz so treffend beschrieben hat, gilt auch für die unterschiedlichen Mentalitäten in unserem Kanton. Meine Heimatstadt Wil im Fürstenland gehörte zum Herrschaftsgebiet der Fürstäbte von St. Gallen, die die Geschicke der Stadt während 500 Jahren leiteten. Wil war die Sommerresidenz der Fürstäbte, auch wenn das Wetter heute diesen Schluss nicht ohne Weiteres zulässt. Geprägt von dieser Geschichte sagt man den Fürstenländerinnen und Fürstenländern nach, sie seien treue Staatsdiener und sogar bundestreuer als die Bundesweibel. Doch die Wilerinnen und Wiler können durchaus aufmüpfig sein und haben während Jahrhunderten für die Freiheit und Sicherheit ihrer Stadt gekämpft. So wurde Wil in den Appenzellerkriegen und im alten Zürichkrieg belagert. Die Bevölkerung war grossen Härten ausgesetzt. Da die Landesverteidigung eine zentrale Bundesaufgabe ist, erwähne ich in diesem Kreis gerne, dass mit dem Defensionale von Wil im Jahr 1647 der Grundstein für die Schweizer Armee hier im Hof zu Wil gelegt wurde.

Aber auch die jüngere gesellschaftspolitische Geschichte hat einige Überraschungen parat. Vor 50 Jahren, also 1967, stürmte nämlich eine Gruppe von Frauen das öffentliche Schwimmbad von Wil. Die Wiler Behörden hatten damals das gemeinsame Baden von Männern und Frauen untersagt. Die Frauen akzeptierten dies nicht mehr länger und kletterten über den Zaun. Dieses Beispiel zeigt, dass Veränderungen von Werten und gesellschaftliche Entwicklungen von den Menschen selbst ausgehen müssen. Es ist nicht Sache des Gesetzgebers, die Menschen nach seinem Gusto zu formen und zu dekretieren, was moralisch richtig oder falsch ist. Diese Frauen haben mit der Erstürmung des Zauns eine nicht mehr zeitgemässe Anordnung der Stadtbehörden mit ihrer mutigen Tat ausser Kraft gesetzt. Auch wir sollten uns überlegen, wo wir im politischen Alltag noch Zäune überwinden können. Auch wir sollten den Mut aufbringen, zuweilen über Zäune zu springen, wenn es dem Wohl der Menschen dient, in deren Dienst wir unsere politische Arbeit verrichten.

Doch nochmals zurück zu den Menschen in meiner Heimatregion. Wie einige von Ihnen wissen, sagt man den St. Gallerinnen und St. Gallern nach, sie seien brötig. Ich bin zwar Übersetzerin, aber weiss kaum wie ich dieses Wort nur schon ins Deutsche übersetzen soll. Vielleicht hilft es Ihnen, wenn ich Ihnen sage, dass ich wohl auch eine typische Vertreterin dieses Menschenschlags bin. Ja, brötig heisst wohl etwas zurückhaltend, tendenziell spröde, immer um Korrektheit bemüht. Die bösen Zungen behaupten deshalb, dass eine Beerdigung in Zürich lustiger ist als eine Hochzeit in St. Gallen. Doch ganz so schlimm ist es nicht, liebe Gäste. Mein Vorgänger, der leider verstorbene alt Ständerat Ernst Rüesch, hat einmal gesagt, der St. Galler sei wie eine Ketchup-Flasche. Man muss lange schütteln, bis etwas herauskommt, aber dann kommt alles auf einmal, dann schüttet der St. Galler seine Seele aus. Ich hoffe, dass es Ihnen im Austausch mit der Bevölkerung auf dem Hofplatz im Anschluss an diese Feier, gelingt, diese Seele zu entdecken. Auch wenn die St. Gallerinnen und St. Galler das Herz nicht auf der Zunge tragen, sind sie doch liebenswürdig. Und ich weiss, dass die Menschen in unserer Stadt sich auf die Begegnung mit Ihnen freuen.

Mit diesen Worten danke ich Ihnen nochmals herzlich für die Zeit, die Sie gemeinsam mit mir und meiner Familie hier in meiner Heimat verbringen. Ich wünsche Ihnen ein paar gemütliche Stunde ausserhalb des Bundeshauses. Geniessen Sie den kollegialen Austausch. Der Alltag wird uns schnell wieder in Beschlag nehmen.