(sda) Nach dem Willen des Nationalrats soll es künftig keine lebenslangen Witwenrenten mehr geben. Auch der Ehepaar-Plafond soll laut der grossen Kammer fallen - jedenfalls bei neuen Renten. Nach heftiger Debatte hat sie am Mittwoch eine entsprechende Gesetzesänderung angenommen.

In der Gesamtabstimmung hiess der Nationalrat die Vorlage relativ knapp mit 102 zu 95 Stimmen ohne Enthaltungen gut. Die Nein-Stimmen kamen von SP, Grünen und Mitte. Das Geschäft geht an den Ständerat.

Ursprüngliches Ziel des bundesrätlichen Entwurfs war, die Ungleichbehandlung von Witwen und Witwern bei den Hinterlassenenrenten zu beseitigen. Dies verlangte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 2022 in einem Urteil von der Schweiz.

Die Botschaft sieht vor, dass Witwen und Witwer neu eine Rente erhalten, bis ihr jüngstes Kind das 25. Altersjahr vollendet hat - unabhängig davon, ob sie mit ihrer Partnerin oder ihrem Partner verheiratet waren. Personen ohne Kinder sollen nach dem Willen der Landesregierung eine zweijährige Übergangsrente erhalten. Der Nationalrat sprach sich am Mittwoch knapp für eine dreijährige Übergangsrente aus. Ohnehin ausgenommen von der Reform sind Witwen und Witwer, die bei deren Inkrafttreten über 55 sind.

Gegenvorschlag zu Mitte-Initiative

Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK-N) baute die Vorlage bei deren Vorberatung zu einem indirekten Gegenvorschlag zur Initiative "Ja zu fairen AHV-Renten auch für Ehepaare" der Mitte-Partei aus. Sie beantragte, den Ehepaar-Plafond von 150 Prozent der AHV-Maximalrente für künftige Rentnerinnen und Rentner abzuschaffen - nicht aber bei den laufenden Renten. Der Rat schloss sich dieser Position an.

Kommissionsminderheiten aus den Reihen von SP, Grünen und Mitte wollten die Vorlage zur Überarbeitung an den Bundesrat zurückweisen. Sie störten sich besonders daran, dass die Gesetzesrevision auch gewisse bereits laufende Witwenrenten betrifft. Zwei Rückweisungsgsanträge fanden im Rat allerdings keine Mehrheit. Ebenso scheiterte im Rat ein Antrag für eine Anhebung des Ehepaar-Plafonds auf 175 Prozent.

Der Nationalrat wählte bei den bestehenden Renten einen Mittelweg. Laufende Renten sollen demnach nur dann nach zwei Jahren erlöschen, wenn die betroffene Person unter 55 ist, keine Kinder hat und keine Ergänzungsleistungen bezieht. Über die Auswirkungen der Vorlage insbesondere auf die Situation von Frauen bestand dennoch im Rat keine Einigkeit.

"Umverteilung an Gutsituierte"

Es gehe zum einen darum, dass die Hilfe bei jenen Familien ankomme, die sie tatsächlich benötigten, sagte Céline Amaudruz (SVP/GE) namens der Kommissionsmehrheit. Zum anderen helfe die Reform dabei, die AHV finanziell im Gleichgewicht zu halten.

Barbara Gysi (SP/SG) kritisierte dagegen die Kombination der Reform der Hinterlassenenrenten mit der Aufhebung des Ehepaar-Plafonds. In der Form, wie es die Kommissionsmehrheit vorschlage, resultiere daraus eine Umverteilung von den Witwen zu gutsituierten Ehepaaren. Dies sei das Gegenteil sozialer Gerechtigkeit, befand auch Léonore Porchet (Grüne/VD).

Im Urteil des EGMR stehe explizit, dass die Schweiz den Richterspruch nicht zum Anlass nehmen solle, die Leistungen an Witwen zu kürzen, kritisierte Mattea Meyer (SP/ZH). Genau dies tue die Vorlage aber: "Die 100 Millionen Franken, die hier eingespart werden sollen, die bezahlt jemand." Wenn jemand Kinder betreut habe, wirke sich das auch längerfristig finanziell aus.

Frauen hätten noch immer deutlich tiefere Löhne als Männer, gab Katharina Prelicz-Huber (Grüne/ZH) zu bedenken. Zudem leisteten sie immer noch deutlich mehr Betreuungsarbeit. Ohne Witwenrente kämen die Betroffenen häufig kaum durch.

"Nicht mehr zeitgemäss"

So wie die Hinterlassenenrente heute ausgestaltet sei, stamme sie aus dem 19. Jahrhundert, sagte dagegen Andri Silberschmidt (FDP/ZH). Sie gehe davon aus, dass der Mann Erwerbsarbeit leiste, die Frau aber nicht. Die geltende Regelung sei nicht mehr zeitgemäss, befand auch Patrick Hässig (GLP/ZH). Er bezeichnete die Reform als wichtigen Schritt in Richtung Gleichstellung.

Die Reform nehme niemandem etwas weg, sagte auch Diana Gutjahr (SVP/TG) namens der SVP-Fraktion. Es sei richtig, darauf abzustellen, ob Betreuungspflichten bestünden. "Wer keine Kinder betreut, kann und soll wieder ins Erwerbsleben zurückkehren." Das sei zumutbar.

Die Mitte-Fraktion sei irritiert von den Vorschlägen, sagte hingegen Benjamin Roduit (Mitte/VS). Die Übergangsbestimmungen bei den Witwenrenten seien ungenügend. Die Gesetzesrevision trage den Lebenswegen der betroffenen Frauen, die wegen Betreuungspflichten oft keine hohen Einkommen hätten erzielen können, zu wenig Rechnung. "Witwe zu sein, war noch nie ein Privileg." Roduit störte sich ausserdem daran, dass man die Initiative seiner Partei und den Gegenvorschlag nicht gemeinsam berate.

Änderungsanträge scheitern

Eine ganze Reihe von weiteren Punkten waren in der Detailberatung umstritten. Der Rat folgte im Wesentlichen den Anträgen der Mehrheit. Unter anderem wollte eine Kommissionsminderheit aus SVP und Mitte die Renten für Hinterlassene weiterhin nur an Ehegatten ausrichten, fand dafür aber keine Mehrheit.

Die Ratslinke wollte bei allen laufenden Renten den Besitzstand garantieren, drang damit aber nicht durch. Erfolg hatte sie mit dem Antrag, wonach künftig die Übergangsrente für kinderlose Verwitwete während drei statt nur zwei Jahren ausgerichtet werden soll.

Sie wehrte sich jedoch erfolglos gegen die von der Kommissionsmehrheit gewollte Streichung des Verwitwetenzuschlags bei neuen AHV- und IV-Renten sowie die Abschaffung der Alterskinderrenten von AHV und beruflicher Vorsorge. Auch diese Massnahme betrifft bereits Pensionierte nicht. Die Befürworterseite argumentierte, schaffe man den Ehepaar-Plafond ab, müsse man auch jene bisherigen Vorteile von Ehepaaren abschaffen.