In diesem Jahr wäre Friedrich Dürrenmatt 100 Jahre alt geworden. Der Dramatiker war gerne Schweizer, gleichzeitig kritisierte er schonungslos die Politik und deren Akteure. Seine Worte fielen auch im Parlament. Ratsmitglieder zitierten ihn, sein Nachlass gab zu reden und die Aufführung von «Herkules und der Stall des Augias» provozierte sowohl links wie rechts.

Der Anblick hatte etwas Groteskes: Die Pulte auf dem Podium im Nationalratssaal sind als Misthaufen getarnt. Nicht der Ratspräsidenten und seine beiden Vize sitzen dahinter, keine Stimmenzählenden, weder ein Bundesrat noch der Generalsekretär und kein Redner spricht ins Mikrofon. Schauspieler haben deren Plätze eingenommen. Sie reden über Mist und Gestank. Und sie debattieren darüber, wie den wachsenden Haufen beigekommen werden könnte, bevor das ganze Land darunter erstickt. Es ist der 2.Mai 1991, ein halbes Jahr nach dem Tod Friedrich Dürrenmatts. Die Räte sind zum 700. Geburtstag der Eidgenossenschaft nach Bern gekommen. Auf der politischen Bühne unter dem Lichterhimmel wird die Komödie «Herkules und der Stall des Augias» (1962) gegeben, das Publikum: Die Vereinigte Bundesversammlung und zahlreiche hohe Gäste aus der Schweiz.

In dieser Szene spielen Wolf-Dietrich Berg (links) und Inigo Gallo ( KEYSTONE/Edi Engeler)

Das Podium im Nationalratssaal wurde zum Miststock. In dieser Szene spielen Wolf-Dietrich Berg (links) und Inigo Gallo. (© KEYSTONE/Edi Engeler)

Schon im Vorfeld gibt es Widerstand gegen die geplante Aufführung. Er entflammt bei der Frage, ob Dürrenmatt die Inszenierung überhaupt gewollt hätte. Seine Witwe glaubt nein, sein Verleger ja. Kulturschaffende wehren sich gegen die Vereinnahmung des Schriftstellers durch die Politik. Aber auch diese ist gespalten, es gibt Proteste von links und rechts. Die eine Seite sieht Dürrenmatt missbraucht, die andere im Zeitkritiker ein Nestbeschmutzer. Die für das Jubiläumsprogramm zuständige Parlamentskommission hält an der Aufführung fest. Und Ulrich Bremi (FDP/ZH), damals Nationalratspräsident, erinnert in seiner Festrede an die herausfordernden und provozierenden Denker der Aufklärung: «Seit jener Zeit gehört es zu den höchsten Tugenden jeder freien und demokratischen Gesellschaft, dass sie sich durch ihre kritischen Köpfe provozieren lässt, dass sie auf Provokationen eingeht, dass sie Provokationen sogar sucht, um weiterzudenken, um neu zu denken und um zu handeln (…). Friedrich Dürrenmatt ist unser aller Dürrenmatt. Er ist Teil unserer Schweiz, er gehört zu uns; als Ärgernis für manche Bürger und Politiker». Niemand wisse, was Dürrenmatt zu dieser Aufführung gesagt hätte, sagt Bremi. Aber er wisse eines: «Adressat von ‘Herkules und der Stall des Augias’ war die Schweiz und ist vorab die Schweizer Politik. An uns und heute richtet sich diese Komödie. Uns will sie provozieren, uns nimmt sie am Ende des Stücks mit einer zauberhaften Stelle über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Politik und der Politiker ja auch wieder ein bisschen in Schutz».

Das Schauspielensemble unter anderem mit Inigo Gallo (mit Fliege) und Cesar Keiser (rechts neben ihm) und der Regisseur (© KEYSTONE/Edi Engeler)

Zu Ende gespielt: Das Schauspielensemble unter anderem mit Inigo Gallo (mit Fliege) und Cesar Keiser (rechts neben ihm) und der Regisseur präsentieren sich nach der Aufführung den Mitgliedern von National- und Ständerat. (© KEYSTONE/Edi Engeler)

Unversöhnlich war Dürrenmatt mit der Eidgenossenschaft wohl nicht: Er vermacht ihr seinen literarischen Nachlass, – an Bedingungen geknüpft. Es soll ein schweizerischen Literaturarchiv geschaffen werden. Und so gibt der Dramatiker dem Parlament wiederum Debattierstoff, als es die Vorlage über die Reorganisation der 100-jährige Nationalbibliothek berät. Das neue Archiv soll darin einen Platz finden. «Es ist ein Glücksfall, dass Friedrich Dürrenmatt sein eidgenössisches Herz entdeckte und uns seine Werke gegeben hat», sagt der Thurgauer FDP-Nationalrat Ernst Mühlemann in seinem Votum. Dies, allerdings nur dank massiver Suggestion seitens Bundesrat Cotti. Das müsse man auch einmal sagen.

Dürrenmatts niedergeschriebene Gedanken tauchen immer wieder in den Argumentarien von Ratsmitgliedern auf. Die Grüne Fraktion zieht sie bei, als sie 1992 mit einer parlamentarischen Initiative 1992 den Ständerat abschaffen will. Der Berner Nationalrat Lukas Fierz gibt unumwunden zu: «Wer hinter unserem Vorschlag grünen Fundamentalismus vermutet, hat nicht unrecht. Wir haben bei Friedrich Dürrenmatt gelernt, dass man die Dinge in letzter Konsequenz zu Ende denken muss, um der Realität auf die Spur zu kommen». Dürrenmatt-Zitate schaffen es auch in die Debatten zu Landesverteidigung und Abschaffung der Armee, in Voten zum politischen System der Schweiz und zur besseren Verständigung der Sprachengebiete sowie in die Verfassungsrevision von 1966.

Acht Jahre nach der Aufführung in der grossen Kammer hat «Herkules» auch im Stöckli seinen Auftritt. René Rhinow (FDP/BL), Ständeratspräsident 1998/99 schliesst seine Antrittsrede mit einem Zitat aus dem Stück, das wiedergibt, wie er selbst die Rolle des Politikers sieht: «Ich bin Politiker, mein Sohn, kein Held, und die Politik schafft keine Wunder. Sie ist so schwach wie die Menschen selbst, nicht stärker, ein Bild nur ihrer Zerbrechlichkeit. Sie schafft nie das Gute, wenn wir nicht selbst das Gute tun. Und so tat ich denn das Gute. Ich verwandelte Mist in Humus. Es ist eine schwere Zeit, in der man nur so wenig für die Welt zu tun vermag, aber dieses wenige sollen wir wenigstens tun: das Eigene».