​​Die Bundesversammlung kann Massnahmen zur Wahrung der inneren und der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz treffen (Art. 173 Abs. 1 Bst. a und b BV).

Wenn ausserordentliche Umstände es erfordern, kann sie hierfür gestützt auf die Verfassung – d. h. ohne eine dem fakultativen Referendum unterstellte (formell-)gesetzliche Grundlage – Verordnungen oder einfache Bundesbeschlüsse (Verfügungen) erlassen (Art. 173 Abs. 1 Bst. c BV). Auch der Bundesrat hat eine derartige Kompetenz (Art. 185 Abs. 3 BV).

In der Praxis werden Notverordnungen und Notverfügungen in erster Linie vom Bundesrat erlassen, da dieser wegen seines Informationsvorsprungs und seiner ständigen Möglichkeit, zu tagen, in der Regel als erster in der Lage ist, zu handeln. Die Bundesversammlung hat aber stets die Möglichkeit, mit dem nachträglichen Erlass einer eigenen Notverordnung oder Notverfügung die Massnahmen des Bundesrates zu modifizieren oder zu annullieren. Eine Notverordnung des Bundesrates tritt zudem von Gesetzes wegen sechs Monate nach ihrem Inkrafttreten ausser Kraft, wenn der Bundesrat bis dahin der Bundesversammlung keinen Entwurf einer gesetzlichen Grundlage für die Verordnung oder für eine sie ersetzende, längstens drei Jahre gültige Notverordnung der Bundesversammlung unterbreitet (Art. 7d Abs. 2 RVOG). Erlässt der Bundesrat eine Notverfügung, muss er spätestens nach 24 Stunden die Geschäftsprüfungsdelegation darüber informieren (Art. 7e Abs. 2 RVOG).

Die Bundesversammlung kann auch den Aktivdienst anordnen und dafür die Armee oder Teile davon aufbieten (Art. 173 Abs. 1 Bst. d BV). In dringlichen Fällen kann auch der Bundesrat Truppen aufbieten. Bietet er aber mehr als 4000 Angehörige der Armee für den Aktivdienst auf oder dauert der Einsatz voraussichtlich länger als drei Wochen, so ist unverzüglich die Bundesversammlung einzuberufen (Art. 185 Abs. 4 BV). Diese entscheidet, ob die vom Bundesrat angeordnete Massnahme aufrechterhalten werden soll (Art. 77 Abs. 3 MG).

Falls die Sicherheit der Bundesbehörden selbst gefährdet ist oder der Bundesrat nicht in der Lage ist zu handeln, ist die Nationalratspräsidentin oder der Nationalratspräsident (im Verhinderungsfall die Präsidentin oder der Präsident des Ständerates) verpflichtet, die Räte unverzüglich einzuberufen (Art. 33 Abs. 3 ParlG).

Historisches zum Notstandsrecht

Infolge der Terroranschläge vom 11. September 2001 erliess der Bundesrat am 7. November 2001 die Verordnung über Massnahmen gegen die Gruppierung «Al-Qaïda» und verwandte Organisationen (SR 122). Sie war ursprünglich bis zum 31. Dezember 2003 befristet, wurde jedoch vom Bundesrat dreimal (2003, 2005 und 2008) verlängert, was Anlass zu Kritik gab.

Nicht zuletzt aufgrund dieser Kritik verabschiedete die Bundesversammlung am 17. Dezember 2010 das Bundesgesetz über die Wahrung von Demokratie, Rechtsstaat und Handlungsfähigkeit in ausserordentlichen Lagen (09.402​). Dieses sieht für Notverordnungen zur Wahrung der inneren oder äusseren Sicherheit vor, dass der Bundesrat der Bundesversammlung innert sechs Monaten nach ihrem Erlass entweder den Entwurf einer gesetzlichen Grundlage für die Verordnung oder den Entwurf für eine sie ersetzende, längstens drei Jahre geltende Notverordnung der Bundesversammlung unterbreiten muss. Für Notverordnungen zur Wahrung der Interessen des Landes bestimmt das Gesetz, dass ihre Geltungsdauer vier Jahre nicht überschreiten darf. Im Falle einer Verlängerung ihrer Geltungsdauer durch den Bundesrat tritt die Verordnung sechs Monate nach dem Inkrafttreten ihrer Verlängerung ausser Kraft, ausser, der Bundesrat hat der Bundesversammlung einen Entwurf einer gesetzlichen Grundlage für ihren Inhalt unterbreitet.

Das neue Gesetz trat am 1. Mai 2011 in Kraft. Die bis Ende 2011 befristete Al-Qaïda-Verordnung konnte folglich nur schwer noch ein weiteres Mal verlängert werden. Sie wurde daher am 1. Januar 2012 durch die Verordnung der Bundesversammlung vom 23. Dezember 2011 über das Verbot der Gruppierung Al-Qaïda und verwandter Organisationen ersetzt (11.033). Die Notverordnung der Bundesversammlung war, wie vom neuen Gesetz verlangt, auf drei Jahre befristet. An ihre Stelle – und an jene der zwischenzeitlich vom Bundesrat erlassenen Notverordnung über das Verbot der Gruppierung "Islamischer Staat" und verwandter Organisationen – trat am 1. Januar 2015 das befristete, dringliche Bundessgesetz vom 12. Dezember 2014 über das Verbot der Gruppierungen «Al-Qaïda» und «Islamischer Staat» sowie verwandter Organisationen (14.0​76).

Die Al-Qaïda-Verordnung ist, seit dem Inkrafttreten der Bundesverfassung von 1999, die einzige Notverordnung, die von der Bundesversammlung erlassen wurde.

Verordnung der Bundesversammlung vom 23. Dezember 2011 über das Verbot der Gruppierung Al-Qaïda und verwandter Organisationen

Während der ersten Phase der Covid-19-Krise hat der Bundesrat seine Notrechtskompetenz rege genutzt. So waren im Frühsommer 2020 neben zahlreichen unselbstständigen Verordnungen mit Krisenbezug zeitweise bis zu fünfzehn bundesrätliche Notverordnungen gleichzeitig in Kraft.

Das Parlament hat selbst keine Notverordnungen erlassen. Es hat aber den Bundesrat mittels Motionen (20.3128 WBK-N / 20.3129 WBK-S, 20.3145 KVF-S / 20.3154 KVF-N, 20.3146 KVF-S / 20.3155 KVF-N, 20.3157 RK-N) beauftragt, drei Notverordnungen (SR 862.1, SR 783.03, SR 784.402) zu erlassen. Aus Gründen der Rechtssicherheit hatten sich die Gewalten in der ersten Phase der Covid-19-Krise informell darauf geeinigt, dass das Parlament kein eigenes Notrecht bzw. Dringlichkeitsrecht ausarbeitet, sondern stattdessen dem Bundesrat mittels Motionen Aufträge erteilt, welche dieser umgehend umsetzt.

Im Nachgang zur Covid-19 Krise hielt das Parlament für eine bessere «Nutzung der Notrechtskompetenzen und Kontrolle des bundesrätlichen Notrechts in Krisen» im Gesetz neu fest (20.437/20.438), dass eine verlangte ausserordentliche Session unverzüglich stattzufinden hat, wenn

  • der Bundesrat eine Notverordnung oder eine Verordnung, die sich auf eine gesetzliche Ermächtigung zur Bewältigung einer Krise stützt, erlassen oder geändert hat;
  • der Entwurf für eine Notverordnung oder einen einfachen Bundesbeschluss, der einer Notverfügung entspricht, oder der Entwurf für ein dringliches Bundesgesetz im Parlament anhängig gemacht wird.

Zudem werden Kommissionsmotionen, die vom Bundesrat den Erlass oder die Änderung einer Notverordnung oder einer Verordnung, die sich auf eine gesetzliche Ermächtigung zur Bewältigung einer Krise stützt, verlangen, neu in der laufenden ordentlichen oder ausserordentlichen Session traktandiert oder, falls die Motion ausserhalb der Session eingereicht wird, in der nächsten ordentlichen oder ausserordentlichen Session.

Auch muss der Bundesrat die zuständigen Kommissionen zu den Entwürfen für Notverordnungen zur Wahrung der inneren oder äusseren Sicherheit oder einer Verordnung, die sich auf eine gesetzliche Ermächtigung zur Bewältigung einer Krise stützt, und zu Änderungen solcher Verordnungen konsultieren.

Und der Bundesrat hat dem Parlament neu unverzüglich Bericht zu erstatten, wenn eine Kommissionsmotion – welche den Erlass oder die Änderung einer Notverordnung oder einer Verordnung, die sich auf eine gesetzliche Ermächtigung zur Bewältigung einer Krise stützt – nach Ablauf der im Motionstext vorgesehenen Frist für die Berichterstattung noch nicht erfüllt ist.

Faktenbericht: Die Bundesversammlung und die Covid-19-Krise: Ein chronologischer Überblick (PDF)

Von dem zuvor beschriebenen intrakonstitutionellen ist das extrakonstitutionelle Notstandsrecht zu unterscheiden: Nach Auffassung der Lehre haben die Bundesversammlung und der Bundesrat in einer für das Land existenzbedrohenden Notlage (sog. Staatsnotstand) das Recht und die Pflicht, ausserhalb jeder Verfassungsordnung zu handeln. Davon ausgenommen sind die Grundrechte, die unter keinen Umständen eingeschränkt werden dürfen, d. h. notstandsfest sind.

Extrakonstitutionelles Notstandsrecht wurde u. a. während des ersten und zweiten Weltkrieges angewandt. 1914 und 1939 erteilte die Bundesversammlung dem Bundesrat den Auftrag, die «zur Behauptung der Sicherheit, Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz, zur Wahrung des Kredites und der wirtschaftlichen Interessen des Landes und zur Sicherung des Lebensunterhaltes erforderlichen Massnahmen» zu treffen. Das Parlament ermächtigte damit den Bundesrat, für den Schutz des Landes ohne Verfassungs- oder Gesetzesgrundlage Notrecht (Notverordnungen) zu erlassen und Ausgaben zu tätigen.

Unter dem Vollmachtenregime von 1939 musste der Bundesrat der Bundesversammlung jeweils auf die Juni- und die Dezembersession über die von ihm getroffenen Massnahmen Bericht erstatten. Die Bundesversammlung konnte entscheiden, ob die entsprechenden Massnahmen weiterhin in Kraft bleiben sollen. Wichtige Massnahmen mussten zudem vom Bundesrat vor ihrem Erlass den Vollmachtskommissionen beider Räte vorgelegt werden.

Die Bundesversammlung hob das erste Vollmachtenregime 1921 und das zweite – unter Druck der Öffentlichkeit – 1950 auf. Die letzten extrakonstitutionellen Notverordnungen traten 1952 ausser Kraft.

Quellen

  • Haupttext: Michael Merker; Philip Conradin, Art. 173 N 62, in: Waldmann/Belser/Epiney (Hrsg.), Bundesverfassung, Basler Kommentar, Helbing Lichtenhan Verlag, Basel 2015, S. 2575; Urs Saxer, Art. 173 N 50, 7, in: Ehrenzeller/­Schindler/­Schweizer/­Vallender (Hrsg.), Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, Schulthess, Zürich/Basel/Genf 2014, S. 2790 ff.; Pierre Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Stämpfli Verlag AG Bern, 2011, S. 174 ff.
  • Abschnitt «Historisches zum Notstandsrecht»: 09.402 Parlamentarische Initiative: Wahrung von Demokratie, Rechtsstaat und Handlungsfähigkeit in ausserordentlichen Lagen, Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 5. Februar 2010, BBL 2010 1563; Andreas Kley, Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Grossbritannien, die USA, Frankreich und die Schweiz, 3. Auflage, Bern 2013, S. 338 ff. und S. 365 ff.; «Wir wollen ein Parlament, keine Videokonferenz», in der «Schweizer Illustrierten» vom 29. Mai 2020 sowie die Erklärung des Bundesrates an der ausserordentlichen Session im Mai, AB 2020 N 377​