Am Montag, 28. Januar 2019, nahm alt Nationalratspräsidentin Judith Stamm am ersten «Wandelhallengespräch» im Parlamentsgebäude teil, bei dem über die Auswirkungen des Einzugs der Frauen ins Bundeshaus diskutiert wurde. Dies ist eine gute Gelegenheit, den 50-jährigen Kampf der Luzerner Politikerin für eine angemessene Vertretung der beiden Geschlechter in den Institutionen in den Fokus zu rücken.

Die Freude von Judith Stamm war riesig, als Viola Amherd und Karin Keller-Sutter am 5. Dezember 2018 in den Bundesrat gewählt wurden. «Ein veritables vorgezogenes Weihnachtsgeschenk», schrieb die Polit-Ikone auf der Plattform Seniorweb. «Bis jetzt mussten wir uns die Vertretung der Frauen in politischen Gremien immer mit dem Argument der Quoten erkämpfen. […] Aber es fühlte und fühlt sich heute noch vielerorts an wie die Berücksichtigung einer Minderheitengruppe.» Die heute fast 85-jährige Judith Stamm fragt sich, ob sich das Paritätsprinzip wohl zumindest für die Regierung in den Köpfen festsetzen wird. Das könnte man meinen angesichts der Voraussetzungen, welche die CVP/EVP-Fraktion und die FDP-Liberale Fraktion geschaffen haben, damit zwei Frauen Nachfolgerinnen von Doris Leuthard und Johann Schneider-Amman werden.

EIGENE ERFAHRUNG

Judith Stamm weiss, wovon sie spricht: 1986 ging sie für die Nachfolge von Kurt Furgler und Alfons Egli ins Bundesratsrennen, weil es für sie inakzeptabel war, dass die CVP der Bundesversammlung keine Frau zur Wahl vorschlagen hatte. Ihre Kampfkandidatur scheiterte zwar, ihren Parteikolleginnen jedoch gab sie durch ihre Aktion Mut.

Der Beweis: Im Herbst 1998, als Arnold Koller und Flavio Cotti zurückgetreten waren, gehörten die Nationalrätinnen Rosmarie Zapfl, Rosmarie Simmen und Judith Stamm sowie die Ständerätinnen Ruth Metzler und Rita Roos zu den Favoritinnen für die Nachfolge der beiden Bundesräte. Die CVP-Fraktion entschied sich für ein doppeltes Frauenticket für einen der Sitze, und so wurde im März 1999 Ruth Metzler gewählt. Einige Jahre später trat dann Doris Leuthard die Nachfolge von Joseph Deiss an.

Es liegt in der Natur von Judith Stamm, Veränderungen herbeizuführen und Menschen für eine Sache zu mobilisieren. Als Hausfrau, wie es ihre Mutter war, hat sie sich nie gesehen. Nach der Erlangung des Doktorats in Rechtswissenschaften an der Universität Zürich arbeitete sie am Bezirksgericht Uster. Da Frauen damals weder wählen noch gewählt werden konnten, war es ihr verwehrt, Gerichtschreiberin oder Richterin zu werden. Stattdessen begann sie für die Luzerner Polizei zu arbeiten und bildete dort Kohorten von angehenden Polizisten aus, bevor sie zur Offizierin befördert wurde. Schliesslich war sie als Richterin und Jugendanwältin tätig.

Foto Stamm

Judith Stamm erkämpfte sich ihren Platz in der Männerbastion der Luzerner Polizei und wurde dort 1967 zur Frau Oberstleutnant befördert.

PIONNIERIN IN IHREM KANTON

Judith Stamm trat 1971, dem Jahr, als die Frauen das Stimm- und Wahlrecht erlangten, der Christdemokratischen Volkspartei bei. Im Alter von 37 Jahren ergatterte sie als erste Frau einen Sitz im Grossen Rat des Kantons Luzern, dessen Mitglied sie bis 1984 war.

1983 wurde sie in den Nationalrat gewählt. In den vier Legislaturen als Mitglied der grossen Kammer reichte sie zahlreiche Vorstösse ein. Sie wollte die Institutionen für die Frauen zugänglich machen und die Schweiz gegenüber dem Ausland öffnen. Ihre Motion 86.917, welche den Bundesrat beauftragte, zur Umsetzung des Verfassungsartikels über die Gleichstellung von Frau und Mann eine Bundesstelle einzurichten, führte 1988 zur Schaffung des Eidgenössischen Gleichstellungsbüros. Acht Jahre später trat das Gleichstellungsgesetz in Kraft.

Stamm Foto

Judith Stamm mit ihren Kollegen Leu, Wick und Seiler 1993 im Nationalrat

SICH EIN HERZ FASSEN

An der Vernissage für die Biographie von Judith Stamm im Jahr 2008 erinnerte die ehemalige Luzerner Nationalrätin der Grünen, Cécile Bühlmann, daran, wie die progressive CVP-Parlamentarierin den konservativen Kräften ihrer Fraktion zu Beginn ihres Mandats die Stirn geboten hatte. War Judith mit ihren Parteikollegen nicht einverstanden, fasste sie sich ein Herz und stand alleine auf, die elektronische Abstimmung wurde nämlich erst 1996 eingeführt. Im Laufe der Jahre erlangte Judith Stamm aber den Respekt ihrer Fraktion, was sich auch darin zeigte, dass sie zu Beginn der Wintersession 1996 als Kandidatin für das Nationalratspräsidium aufgestellt wurde.

In ihrer Antrittsrede sagte Judith Stamm, sie teile die Freude, gewählt worden zu sein, mit ihrer Partei, ihrem Kanton und ihrer Familie, vor allem aber mit vielen Frauen im In- und Ausland. Sie sei erst die vierte Frau, die seit 1291, 1848 oder, genauer gesagt, seit 1971 in dieses Amt gewählt worden sei. Judith Stamm fügte mit einem Augenzwinkern hinzu, dass der Verfassungsartikel über die Mutterschaftsversicherung im Übrigen seit 51 Jahren darauf warte, geschaffen zu werden.

Ihr Nachfolger als Nationalratspräsident, der Solothurner Sozialdemokrat Ernst Leuenberger, liess die Inschrift «Präsidentin» an der Tür seines Präsidialzimmers stehen, «um einmal ein Jahr lang zu spüren, wie das eigentlich ist, wenn man unter einer Form mitgemeint ist.»

Der Eintritt in die Männerwelt 1971

Der Eintritt von Frauen ins Parlament im Jahr 1971 und der Anpassungsdruck in der von Männer geprägten Bundespolitik waren im Fokus des ersten Gespräches in der Wandelhalle am 28. Januar 2019. Nationalratspräsidentin Marina Carobbio, Judith Stamm, Nationalrätin der ersten Stunde, und Professor Fabrizio Gilardi von der Universität Zürich nahmen unter der Leitung von Christine Hubacher an der Diskussionsrunde teil. Die Diskussion zeigte auch, dass mehrere grundsäzliche Gesetze ohne Parlamentarierinnen nie hätten entstehen können.

 

 

Bibliographie: Zeindler, Nathalie (2008): Beherzt und unerschrocken. Wie Judith Stamm den Frauen den Weg ebnete. Zürich: Xanthippe Verlag