Grundrechte
Beide Kommissionen stimmten grundsätzlich dem Entwurf des Bundesrates für einen neuen Grundrechtskatalog in der Verfassung zu. Sie sind der Meinung, dass es Ausdruck unseres freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates ist, die Grundrechte in einem eigenen Kapitel am Anfang der Verfassung aufzuführen und nicht wie in der bisherigen Bundesverfassung, verstreut über den ganzen Verfassungstext.
Einig mit dem Bundesrat waren die Kommissionen auch darin, den heute geltenden Artikel über die
Rechtsgleichheit (Art. 4 BV) und die vom Bundesgericht daraus abgeleiteten zahlreichen verfassungsmässigen Ansprüche in verschiedene Artikel aufzuteilen. So werden neu in der Bundesverfassung normiert: Der Schutz vor staatlicher Willkür und die Wahrung von Treu und Glauben (Art. 8), allgemeine Verfahrensregelungen (Art. 25) sowie die Ansprüche jeder Person im gerichtlichen Verfahren (Art. 26), im Strafverfahren (Art. 28) und bei Freiheitsentzug (Art. 27). Die Rechtsgleichheit (Art. 7) wird zudem durch ein
Diskriminierungsverbot und einen beispielhaften Katalog an Diskriminierungstatbeständen ergänzt. Während die ständerätliche Kommission die beispielhafte Aufzählung traditioneller Diskriminierungstatbestände mit dem Zweck des Nachführungsprojekts als vereinbar ansieht und nichts daran änderte, ergänzte die nationalrätliche Kommission diesen Katalog: Mit 18:13 Stimmen lehnte sie zwar die Aufnahme des Diskriminierungstatbestands der
geschlechtlichen Orientierung ab, stimmte dagegen mit 21:9 Stimmen der Aufnahme des weiter gefassten Begriffes
der Lebensform zu. Ein Antrag auf Streichung des Katalogs der Diskriminierungstatbestände wurde mit 19:12 Stimmen verworfen.
Die nationalrätliche Kommission stimmte zudem einem Antrag mit 27:6 Stimmen zu, der in Art. 7 Abs. 5 den Gesetzgeber beauftragt, für die Gleichstellung von Behinderten mit Nicht-Behinderten zu sorgen, indem Massnahmen zur Beseitigung bestehender Benachteilungungen getroffen werden. Einen zweiten Satz, der den Behinderten einen Anspruch auf Zugang und Inanspruchnahme öffentlicher Bauten gewährleisten würde, wurde mit 21:11 Stimmen abgelehnt. Die Mehrheit der Kommission war der Meinung, dass ein solcher subjektiver Anspruch im Gesetz besser konkretisiert werden kann.
Das
Recht auf Existenzsicherung (Art. 10) wird als Recht auf Hilfe in Notlagen in der Verfassung verankert und inhaltlich durch das Subsidiaritätsprinzip ergänzt. Die ständerätliche Kommission gab diesem Vorschlag mit 8:7 Stimmen gegenüber dem bundesrätlichen den Vorzug. Die nationalrätliche Kommission stimmte diesem Vorschlag mit 17:16 Stimmen bei einer Enthaltung zu und lehnte damit den Antrag der SGK und des Bundesrates ab, die Existenzsicherung ohne Subsidiaritätsprinzip festzuschreiben. Die Gegner des Subsidiaritätsprinzips machten geltend, dass dieses ein ungeschriebener Grundsatz des Sozialversicherungsrechts ist, weil jemand, der nicht bedürftig ist, auch keine Sozialleistungen beanspruchen kann. Deshalb sollte das Subsidiaritätsprinzip nicht in einem Grundrecht festgehalten werden, da dadurch der Anspruch relativiert wird und textlich nicht mit den anderen Grundrechten übereinstimmt. Die Befürworter dagegen waren der Meinung, dass die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in Art. 10 die heutige Rechtswirklichkeit besser widerspiegelt.
Die ständerätliche Kommission lehnte es ab, im Artikel über die Medienfreiheit (Art. 14a) das
Redaktionsgeheimnis zu garantieren. Das Redaktionsgeheimnis schützt die journalistischen Quellen und schafft ein Zeugnisverweigerungsrecht. Das Redaktionsgeheimnis als grundrechtlicher Anspruch ist aber nach Meinung der ständerätlichen Kommission sehr weit zu verstehen und durch die Rechtsprechung noch nicht konkretisiert. Die Kommission will deshalb die Umschreibung des Redaktionsgeheimnisses dem Gesetzgeber überlassen. Mit 10:5 Stimmen obsiegte diese Formulierung gegenüber einem Antrag, das Redaktionsgeheimnis aus dem Verfassungsentwurf zu streichen. Die nationalrätliche Kommission dagegen stimmte mit 25:5 Stimmen der Gewährleistung des Redaktionsgeheimnisses in der Verfassung zu.
Eine weitere Differenz zwischen beiden Verfassungskommissionen besteht in Bezug auf das
Streikrecht. Die ständerätliche Kommission lehnte es mit 9:8 Stimmen ab, das Streikrecht in der Verfassung aufzunehmen. Dies bedeutet nicht, dass das Streikrecht abgeschafft werden soll. Gegen eine verfassungsmässige Verankerung des Streikrechts wird aber geltend gemacht, dass weder die EMRK noch das Bundesgericht das Streikrecht als Grundrecht anerkennen und der Sozialpakt der UNO das Streikrecht nur insofern gewährleistet, als dieses mit der innerstaatlichen Ordnung übereinstimmt. Da die schweizerische Rechtsordnung das Streikrecht nur auf Gesetzesstufe kennt, widerspricht es nach Meinung der ständerätlichen Kommission dem Konzept der Nachführung, dieses auf Verfassungsstufe zu heben. Die nationalrätliche Kommission dagegen stimmte mit 22:10 Stimmen für den Entwurf des Bundesrates und gegen die Streichung des Streikrechts. Nach ihrer Meinung anerkennt die Lehre, dass die Arbeitskampffreiheit zur schweizerischen Wirtschaftsordnung gehöre und auch verfassungsrechtlich als Ausfluss der Koalitionsfreiheit verankert ist.
Des weiteren ergänzte die nationalrätliche Kommission das Recht auf Ehe mit einem Recht auf Familie, lehnte es aber mit 22:13 Stimmen ab, die freie Wahl einer anderen Form des gemeinschaftlichen Zusammenlebens in der Verfassung festzuschreiben.
In der nationalrätlichen Kommission wurden mit 20:12 Stimmen ein Antrag abgelehnt, welcher die Ausübung der Eigentumsfreiheit von der Wahrnehmung sozialer Verantwortung abhängig machen wollte. Ein entsprechender Antrag in bezug auf die Wirtschaftsfreiheit wurde mit 21:11 abgelehnt.