Einige Monate nach der ersten Frauenwahl hätten Schweizer Bürgerinnen das Frauenstimmrecht klar angenommen. Gemäss einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 1972 hätten 73,1 Prozent von ihnen Ja und 13 Prozent Nein gestimmt. Allerdings war nur ein Drittel der Frauen der Ansicht, dass sie in der Politik die gleiche Rolle haben sollten wie die Männer.


Die Umfrage Swiss Voting Study wurde zwischen Februar und Juni 1972 bei 1917 Wählerinnen und Wählern durchgeführt, die bei den eidgenössischen Wahlen vom 31. Oktober 1971 registriert waren. Sie deckt ein breites Spektrum an sozialen und politischen Problemen ab, und die Forscher der Schweizer Wahlstudie Selects haben daraus eine Momentaufnahme der Positionen der Wählerschaft ein Jahr nach der Erlangung des Frauenstimmrechts erstellt. Eine genaue Untersuchung der gesammelten Daten verdeutlicht auch die Kluft zwischen den Positionen der Bürgerinnen und der Bürger.

Die Daten zeigen, dass ein Jahr nach der Abstimmung über die Bürgerrechte der Frau das Ja-Lager an Boden gewonnen hatte. Die Männer sprachen sich dabei klarer für das Frauenstimm- und -wahlrecht aus als die Frauen (82,7 % gegenüber 73,1 %). Die restlichen befragten Personen waren je zur Hälfte dagegen oder hatten keine Meinung. In der untenstehenden Grafik ergeben die Antworten der Frauen und jene der Männer jeweils 100 Prozent. Die Umfrageteilnehmerinnen und -teilnehmer beantworteten nicht sämtliche Fragen. Um die Meinung der Frauen und der Männer vergleichen zu können, wurden die fehlenden Antworten in der Grafik nicht berücksichtigt.

Zurückhaltung der Frauen gegenüber politischen Ämtern

Die Selects-Studie zeigt, dass die Frauen sich zwar emanzipieren wollten, sich aber noch von ihrer staatsbürgerlichen Legitimität überzeugen mussten. Nur ein Drittel der befragten Frauen (32,8 %) fand, dass die beiden Geschlechter in der Politik die gleiche Rolle spielen sollen. Bei den Männern war dies die Hälfte (49,7 %). Für beinahe jede zehnte Frau (9,3 %; gegenüber 6,6 % der Männer) war Politik eine reine Männersache. Auch waren mehr Frauen (49,9 %) als Männer (38,3 %) der Meinung, dass gewisse politische Aufgaben (Ämter) den Männern vorbehalten sein sollen.

In der Umfrage wurde auch nach dem Interesse der Stimmbevölkerung an der Politik gefragt. Auf die Frage: «Interessieren Sie sich für Politik - sehr - ziemlich - ein bisschen - gar nicht?» zeigten lediglich 6,2 Prozent der Frauen (gegenüber 18,7 % der Männer) sehr grosses Interesse, 26 Prozent der Frauen und 33 Prozent der Männer bezeichneten sich als ziemlich interessiert. Am anderen Ende der Skala räumten 31,7 Prozent der Frauen – und nur 12,1 Prozent der Männer – ein, sich überhaupt nicht für Politik zu interessieren.

Gleichstellung der Geschlechter

Die Kluft zwischen Mann und Frau wird kleiner, wenn es um die Gleichstellung der Geschlechter geht. Die Hälfte der Frauen (50 %) und nur geringfügig weniger Männer (46,7 %) hielten dies für ein sehr wichtiges Thema. Als ziemlich wichtig bezeichneten es 35,9 Prozent der Männer und 31 Prozent der Frauen. Dies bedeutet, dass über 80 Prozent aller Frauen und Männer befürworteten, dass beide Geschlechter die gleichen Rechte haben sollen. Der Anteil der Frauen und Männer in der Bevölkerung, die sich nicht für die Gleichstellung interessieren, ist 1972 sehr gering: 3,2 Prozent der Frauen und 4,7 Prozent der Männer.


Weitere Daten zeigen, dass die Frauen 1972 nicht wirklich als politische Gesprächspartnerinnen betrachtet wurden, dies obwohl ihre Stimme in Abstimmungen oder Wahlen gleich viel zählte wie jene der Männer. Acht von zehn Frauen (78,2 %) wurden nie nach ihrer politischen Meinung gefragt, während die Mehrheit der Männer zumindest gelegentlich danach gefragt wurde.

Zu guter Letzt gaben nur 45 Prozent der Frauen (457) und 27,9 Prozent der Männer (637) in der Umfrage ihre politische Gesinnung bekannt. Nach Ausschluss der fehlenden Antworten ergibt sich folgendes Bild: 45,5 Prozent der Frauen und 46 Prozent der Männer wählten auf einer Skala von 1 (links) bis 5 (rechts) die 3 und sahen sich somit in der politischen Mitte; 17,9 Prozent der Frauen und 21,9 Prozent der Männer bezeichneten sich als rechts (5), 3,5 Prozent der Frauen und 3,8 Prozent der Männer als links. Rund ein Fünftel der männlichen wie auch der weiblichen Stimmbevölkerung hielt sich für eher rechts (4), 8,3 Prozent der Frauen und 11,9 Prozent der Männer für eher links (2).


Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger unter der Lupe


Seit 1995 analysiert die Schweizer Wahlstudie Selects das Wahlverhalten der Schweizer Bürgerinnen und Bürger bei eidgenössischen Wahlen. Sie wird vom Schweizer Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften (FORS) in Lausanne mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) durchgeführt. Die Datensätze sind dokumentiert und für wissenschaftliche Zwecke frei zugänglich.

Die Anfrage Swiss Voting Study von 1972 wurde mit standardisierten Interviews anhand einer Zufallsstichprobe von Wählerinnen und Wählern aus 131 Gemeinden durchgeführt. Personen, die eine bestimmte Frage nicht beantworteten, wurden nicht berücksichtigt, weshalb die Anzahl befragter Personen nicht in allen Grafiken dieselbe ist.