Datum: 11.06.1970
Anlass: Jubiläumsfeier 150 Jahre Bundesstaat
Redner/Rednerin: Jean-Claude Favez, Annemarie Pieper, Mario Botta
Funktion: Historiker, Philosophin, Architekt
Saal: Nationalrat
Hatte man das 150. Jubiläum des Bundesstaates noch mit internationalen Gästen zelebriert, so lud man anlässlich der 150 Jahre Bundesversammlung ausschliesslich Schweizer Gastredner ins Parlament. Der Westschweizer Historiker Jean-Claude Favez, die Deutsche, in Basel lehrende Philosophin Annemarie Pieper und der Tessiner Architekt Mario Botta sollten sich in ihrer Landessprache und aus ihren jeweiligen Blickwinkeln zum Thema «Zukunft der Politik» äussern. Eingerahmt wurden die Auftritte der Gäste durch ein Eröffnungsvotum von Nationalratspräsident Ernst Leuenberger und ein Schlusswort von Ständeratspräsident Ulrich Zimmerli.
Jean-Claude Favez strich heraus, dass mit dem Ende des Kalten Krieges eine historische Phase vorüber sei. Erstmals sehe sich die Schweiz keinem bedrohlichen Umfeld mehr gegenüber. Auf die bewährten Verhaltensmuster und Gewissheiten, welche für die Zeit der Weltkriege und die Nachkriegszeit gegolten hätten, könne nicht mehr zurückgegriffen werden, was Verunsicherung zur Folge habe. Einerseits fürchte man sich vor internationaler Isolierung, andererseits aber auch vor der Preisgabe der bewährten Institutionen und politischen Kultur. Schwierige politische Entscheidungen seien zu treffen, Innovationen anzugehen. Auch hier, so schloss Favez, könnte man aus der Vergangenheit lernen: Wenn man sich rechtzeitig auf die Veränderungen einstellte, könne das erhalten bleiben, was einem wirklich wichtig sei.
Auch Annemarie Pieper sprach vor allem über die Vergangenheit, habe sie doch «weder prophetische noch astrologische Fähigkeiten.» Sie wies darauf hin, dass es immer die Ideen gewesen seien, welche die Welt bewegt hätten. Indem sie drei grosse Denker zur Sprache kommen liess, nämlich Jean-Jacques Rousseau, Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche, hob sie die Ideen «Freiheit», «individuelle Grösse» und «Europa» hervor. Die Schweiz müsse vor diesem Hintergrund die Herausforderungen in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sowie im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen angehen. Pieper verwies jedoch auch auf ein «Kraftresevoir», welches die genannten Denker nicht bedacht bzw. missachtet hatten, nämlich auf dasjenige der Frauen. Hierbei müsse die Idee der Gleichwertigkeit – dass Verschiedenes den gleichen Wert zuerkannt erhält – über das vertikale Denken obsiegen. Es würde der Schweiz gut anstehen, so schloss Pieper, wenn sie hier eine Vorreiterrolle einnehmen würde.
Nationalratspräsident Ernst Leuenberger gab sich darauf scherzhaft vorbildlich und versprach alsgleich, seinen Sessel am Monatsende zugunsten einer Frau zu räumen.
Mario Botta sprach aus der Sicht eines Schweizerbürgers, der sich auch als Weltbürger fühle. Er verwies darauf, dass es angesichts der zunehmenden Geschwindigkeit und Komplexität der Problemstellungen immer schwieriger werde, mit den Veränderungen Schritt zu halten. Die erhöhte Mobilität und die elektronische Revolution veränderten den Alltag und die Lebens¬bedingungen. In dieser Situation dürfe die Politik nicht nur administrieren und einen allgemeinen Konsens suchen, sondern müsse auch Führungsverantwortung übernehmen. Botta verschwieg nicht, in welche Richtung er das Land geführt sehen wollte, nämlich in Richtung Europa. Es sei gefährlich, wenn sich die Schweiz hier zurückziehe. Die europäische Einigung sei ein fortschrittliches Projekt, das auch zivile und ethische Werte verteidige. Er verwies auch auf das Migrationsproblem. In Anspielung an die damals neu ausgebrochene Debatte zur Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg ermahnte Botta die Ratsmitglieder, dem heutigen Flüchtlingsdrama nicht mit einer «Das-Boot-ist-voll»-Politik zu begegnen. Es gelte, eine globaleres, freieres und gerechteres Land zu konstruieren. Hierbei könne die Kultur als kritische Kontrollinstanz eine wichtige Rolle spielen, weshalb sie grosszügige Unterstützung verdiene.
Quellen: AB 1998 VBV 2998ff; sda 05.11.1998, 06.11.1998