(sda) Der Ständerat hat am Montag einen neuen Anlauf zur Ausweitung der Verfassungsgerichtsbarkeit schon beim Start abgewürgt. Er hat zwei Motionen abgelehnt, die die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit auch für Bundesgesetze einführen wollten. Das Bundesgericht soll also auch in Zukunft Gesetze anwenden müssen, die der Verfassung widersprechen. Über die Frage wird in der Schweizer Politik seit Jahren gestritten.

Es handelt sich um einen der ältesten Zankäpfel der Schweizer Politik: Bis heute können die eidgenössischen Räte Bundesgesetze erlassen, die der Verfassung widersprechen. Die Bundesverfassung selber verbietet den Gerichten, dagegen einzuschreiten. Das seit der Gründung des Bundesstaats geltende System wurzelt im Grundsatz der Gewaltentrennung: Das höchste Gericht soll sich nicht über den Bundesgesetzgeber stellen können.

Nach rund zehn Jahren, als die Frage zuletzt diskutiert wurde, kam das Thema am Montag erneut auf das politische Tapet. Nach einer ausgiebigen Diskussion entschied der Ständerat jeweils mit 29 zu 15 Stimmen bei einer Enthaltung, zwei Motionen von Stefan Engler (Mitte/GR) und Mathias Zopfi (Grüne/GL) abzulehnen, welche die Ausweitung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesgesetze verlangten. Die vorberatende staatspolitische Kommission hatte noch äusserst knapp - mit Stichentscheid ihres Präsidenten Mathias Zopfi - zugunsten der Motionen entschieden.

Zeit für Änderung gekommen

Die Befürworter argumentierten, es sei der Zeitpunkt gekommen, die vorhandene Lücke des individuellen Rechtsschutzes zu schliessen, sagte Motionär und Kommissionssprecher Stefan Engler (Mitte/GR). Die Mehrheit verspreche sich damit präventiv ein höheres Mass an Selbstkontrolle im eidgenössischen Parlament bei der Gesetzesausarbeitung.

Es gehe darum, den verfassungsrechtlichen Schutz des Einzelnen vor den Staat zu stellen, fügte Zopfi hinzu. Die Verfassungsgerichtsbarkeit schütze Bürgerinnen und Bürger sowie Kantone vor Kompetenzüberschreitung des eidgenössischen Parlaments.

Die Gegnerinnen und Gegner wandten ein, es bestünde kein Handlungsbedarf, das geltende Regime über Bord zu werfen. Die Ausgangslage, die Fragestellung und die Argumente hätten sich nicht geändert, sagte Daniel Fässler (Mitte/AI).

Das Parlament befasste sich ab 2011 zuletzt mit dieser Frage. Der Ständerat sprach sich damals von Beginn weg gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit von Bundesgesetzen aus, während sich der Nationalrat für eine Änderung stark machte. Erst Ende 2012 gab er sein Vorhaben aufgrund des Widerstands im Ständerat auf.

Gesetzesauslegung "keine exakte Wissenschaft"

Fässler wandte ausserdem ein, dass es bei der Frage, ob ein Gesetz mit der Verfassung vereinbar sei, nicht nur Schwarz und Weiss gebe. "Die Juristerei ist keine exakte Wissenschaft", sagte er. Es gebe viele Gesetze, die für die einen verfassungskonform und für die anderen verfassungswidrig seien.

Es stelle sich die entscheidende Frage, wer unbestimmte Verfassungsnormen konkretisieren solle. Es sei die Aufgabe des Parlaments, im Gesetzgebungsprozess auf verfassungsrechtliche Fragen Antworten zu finden. "Wir möchten nicht, dass wir uns aus der Verantwortung stehlen und die Bundesrichter über die Bundesversammlung stellen", sagte Fässler.

Auch der Bundesrat lehnte das Anliegen ab. "Hier geht es um eine Kernfrage des Staatsverständnisses", sagte Justizministerin Karin Keller-Sutter. Es müssten verschiedene Gesichtspunkte gegeneinander abgewogen werden. Der Stärkung des Rechtsstaates durch diese Änderung stehe das Risiko des Eingriffs in ein "austariertes und funktionierendes System der Gewaltenteilung" gegenüber. Es wäre eine Machtverschiebung hin zu den Gerichten, weg vom Parlament und dem Volk.

Mit dem Nein des Ständerats ist dieser neue Anlauf zur Ausweitung der Verfassungsgerichtsbarkeit bereits wieder gescheitert, die Motionen sind vom Tisch.