(sda) Nach dem Ständerat kritisiert auch der Nationalrat das Klima-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in einer Erklärung. Der Gerichtshof habe mit dem Urteil die Grenzen der zulässigen Rechtsfortentwicklung überschritten und die demokratischen Entscheidungsprozesse der Schweiz missachtet, so die Hauptargumente. Der Bundesrat muss die Erklärung nun in den Europarat tragen.

Die Erklärung trägt - analog zu derjenigen des Ständerats - den Titel "Effektiver Grundrechtsschutz durch internationale Gerichte statt gerichtlicher Aktivismus". Die grosse Kammer nahm sie am Mittwoch mit 111 zu 72 Stimmen bei 10 Enthaltungen an.

Der Gerichtshof hatte Anfang April auf eine Beschwerde des Vereins Klimaseniorinnen hin eine Verletzung der Menschenrechtskonvention durch die Schweiz festgestellt. Sie sei ihren Aufgaben beim Klimaschutz nicht nachgekommen. Der Staat müsse Einzelpersonen vor den Folgen des Klimawandels für Leben und Gesundheit vermehrt schützen.

Mit der Annahme der Erklärung folgte die grosse Kammer der Mehrheit ihrer Kommission für Rechtsfragen (RK-N). "Ein ultrawirres Urteil, wie selbst Völkerrechtsexperten finden", sagte Kommissionssprecher Philipp Matthias Bregy (Mitte/VS). Es gehe in der Erklärung des Nationalrats denn auch nicht um ein Urteil über ein internationales Gericht oder dessen Nichtanerkennung.

In der Erklärung stehe explizit, dem Urteil sei keine "weitere" Folge zu geben. Das impliziere, dass die Schweiz "bereits Folge gegeben" habe: Mit dem CO2-Gesetz wie auch mit dem am vergangenen Wochenende durch das Stimmvolk angenommenen Stromgesetz sei bereits ein Rahmenwerk geschaffen worden. Die Schweiz habe ihre Verpflichtungen aus dem Urteil "zwischenzeitlich längst erfüllt". Dies habe das Gericht in seinem Urteil nicht berücksichtigt.

Bürgerliche sehen Gewaltenteilung als verletzt an

Es handle sich bei dem Urteil unter anderem deshalb um "Gerichtsaktivismus", sagte Simone Gianini (FDP/TI). Das Gericht verletze die Gewaltenteilung. Mit dem Recht auf Schutz vor dem Klimawandel habe der EGMR ein neues Menschenrecht erschaffen.

Die SVP-Fraktion stellte sich - genauso wie die Mehrheit der Mitte- und der FDP-Fraktion - geschlossen hinter die RK-N. "Das politische motivierte Urteil verletzt die zweite Säule der Gewaltenteilung, die Legislative", sagte Barbara Steinemann (SVP/ZH).

Auch werde eine "Beschwerdelegitimation" eingeführt, was eine Anmassung für die Schweizer Demokratie sei. Der EGMR habe sich in den Rang eines Verfassungsgerichts erhoben und untergrabe damit seine eigene Glaubwürdigkeit, sagte Jean-Luc Addor (SVP/VS).

FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann (ZH) gab im Rahmen einer Nachfrage zudem zu bedenken, dass das Gericht mit dem Urteil möglicherweise einen Präzedenzfall für Kollektiv- oder Popularklagen in der Schweiz geschaffen habe.

Gegner befürchten Schwächung der Menschenrechte

Der Nationalrat fällte seinen Entscheid gegen den Willen einer links-grünen Minderheit der RK-N, welche die Gewaltenteilung ebenfalls als verletzt ansah, jedoch aus diametral anderen Gründen. Das Urteil des EGMR sollte respektiert werden - gerade, um die Gewaltenteilung zu achten, sagte Beat Flach (GLP/AG) für die Kommissionsminderheit. Es gebe in der Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit, demnach sei die Anrufung des EGMR das einzige Mittel, um sich diesbezüglich zu beschweren.

Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), welche die Basis für die Rechtsprechung des EGMR darstellt, sei wichtig für den Schweizer Rechtsstaat und habe diesen weiterentwickelt, sagte Min Li Marti (SP/ZH). "Demokratie und Menschenrechte sind nicht im Widerspruch zueinander, sondern komplementär. Die Einzigen, die hier Aktivismus betreiben, sind wir, nicht der EGMR", so Marti. "Diese Debatte schadet unserer Institution", sagte auch Aline Trede (Grüne/BE). Der Entscheid des EGMR sei demokratisch legitimiert.

Flach befürchtete zudem, dass die Erklärung "negative Auswirkungen auf das internationale Ansehen der Schweiz und auf den EGMR selbst" haben könnte. Auch andere Staaten könnten die Urteile des Gerichtshofs in Zukunft ignorieren, was die Menschenrechte schwäche.

Klimaseniorinnen kritisieren Erklärung

Der Verein Klimaseniorinnen kritisierte die Verabschiedung der Erklärung am Mittwoch als "Angriff auf das Herzstück des europäischen Menschenrechts-Systems durch die Bundesversammlung". Letztere stelle "die Kompetenz von Gerichten infrage, die Menschenrechte auf die grossen Fragen der Zeit anzuwenden".

Der Bundesrat stehe nun in der Verantwortung, den Schaden zu limitieren und die Verbindlichkeit von Urteilen des EGMR zu unterstreichen.

Der Bundesrat will im August zu dem EGMR-Urteil gegen die Schweiz Stellung nehmen, wie Justizminister Beat Jans am vergangenen Montag mitteilte. Auf eine erste Einschätzung liess er sich nicht ein. Der Bundesrat muss seine Reportpflicht gegenüber dem EGMR innert sechs Monaten wahrnehmen.