Im Bundeshaus treffen Geschichte und Gegenwart aufeinander: Mit dem Projekt «Splitter» verwandeln die Kunstschaffenden Maria Iorio und Raphaël Cuomo die traditionsreichen Glasfenster der Kuppelhalle in bewegte Lichtbilder. Dieses Kunstwerk ist das jüngste Projekt zeitgenössischer Kunst im Parlamentsgebäude und knüpft an die früheren Projekte Petites dramaturgies fédérales, Consensus und Tilo an.
Die Kuppelhalle ist das Herzstück des Parlamentsgebäudes – ein Raum, der die Schweiz in Bildern erzählt. Vier monumentale Bogenfenster zeigen Szenen aus dem Arbeitsleben der Bevölkerung um 1900 und stehen für die vier Landesregionen: Handel im Norden, Textilindustrie im Osten, Landwirtschaft und Tourismus im Süden, Metallindustrie im Westen.
Die Künstler, die diese Glasfenster damals geschaffen haben, haben sich dafür entschieden, Symbolik, Architektur und nationale Identität miteinander zu verbinden. Mehr als hundert Jahre später greifen Maria Iorio und Raphaël Cuomo diese Themen auf und führen sie in die digitale Gegenwart. Für ihr Projekt Splitter filmten sie die historischen Fenster aus ungewohnten Perspektiven, bearbeiteten die Aufnahmen digital und projizieren sie als kurze Videosequenzen auf die elektronischen Informationsstelen der Kuppelhalle. Aus starren Bildern werden bewegte Lichtflächen – und das Vergangene tritt in Dialog mit der Gegenwart.
Begegnung auf Augenhöhe
Das Künstlerduo holt die monumentalen Darstellungen aus der Höhe der Kuppel herunter und bringt sie auf Augenhöhe. Ihre Kamera richtet den Blick auf Details – einen Hund, einen Schuh, ein Stück Himmel – und macht sichtbar, was sonst leicht übersehen wird. Die lautlosen Videoloops laden zum Staunen ein, ohne zu erklären. Sie fragen: Was bedeutet Tradition, wenn sie digital gespiegelt wird? Und wie verändert sich Wahrnehmung, wenn Kunst in Bewegung gerät?
Ein Sturm, der Spuren hinterliess
Auch die Geschichte der Glasfenster ist bewegt. In der Nacht vom 16. auf den 17. Dezember 1962 fegte ein Föhnsturm über Bern. Der Wind traf die Ostfassade mit solcher Wucht, dass sich Befestigungen lösten. Das Fenster, das die Textilindustrie zeigt, zerbrach und stürzte in einen Archivraum. Die anschliessende Restaurierung wurde zu einer handwerklichen Meisterleistung: Fachleute sammelten jedes Bruchstück, setzten sie auf beleuchteten Glastischen zusammen und fixierten sie mit Wachs. Insgesamt 74 einzelne Felder wurden so rekonstruiert – präzise, geduldig und mit grossem Respekt vor dem Original.
Warum «Splitter»?
Der Titel erinnert an die zerbrochenen Glasstücke von 1962 – und zugleich an die Bruchstücke unserer Wahrnehmung. Kein Blick erfasst das Ganze, jedes Detail erzählt seine eigene Geschichte. Splitter sind Fragmente: scharf, präzise, aufschlussreich. Ab der Wintersession 2025 erscheinen die ersten Videosequenzen auf den Stelen der Kuppelhalle: kurze Lichtspiele, die unerwartet auftauchen und wieder verschwinden. Eine zweite Serie, die filmisch vom Projekt erzählt, folgt im Laufe des kommenden Jahres. Splitter verbindet historische Substanz mit zeitgenössischer Interpretation – und das Parlamentsgebäude wird zu einem Ort, an dem Geschichte nicht stillsteht, sondern in Farbe, Licht und Bewegung weiterlebt.
Zeitgenössische Kunst unter der Kuppel
Seit der umfassenden Renovation des Bundeshauses (2006–2009) hat zeitgenössische Kunst ihren festen Platz im Parlamentsgebäude. Die Kunstkommission Parlamentsgebäude orchestriert das Zusammenspiel von Kunsterbe und moderner Kunst. Nach Consensus von Annaïk Lou Pitteloud und Tilo von Renée Levi wird mit dem Projekt Splitter des Künstlerduos Maria Iorio und Raphaël Cuomo der Weg der Öffnung fortgesetzt: Die historischen Glasfenster des Parlamentsgebäudes werden durch Licht und Bewegung zum Leben erweckt.
Maria Iorio und Raphaël Cuomo
Die beiden Kunst- und Filmschaffenden Maria Iorio (1975) und Raphaël Cuomo (1977) leben und arbeiten zwischen Lausanne und Berlin. Ihre kollaborativen Projekte befassen sich mit den weltweiten Migrationsbewegungen von damals und heute und erzählen Geschichten vom Leben der Migrierenden sowie von (post-)kolonialer Gewalt und deren Nachwirkungen. Ihre Filme beleuchten die Umstände hegemonialer Narrative und hinterfragen diese. Sie rücken so Stimmen, die allzu oft ungehört bleiben, Erfahrungen der Diaspora und Widerstand leistende Personen in den Vordergrund. Zudem nutzen Iorio und Cuomo kuratorische Methoden, um Filmprogramme und Ausstellungen zusammenzustellen. Sie haben ihr Schaffen mehrfach international präsentiert, sei dies an Ausstellungen, in Programmen oder auf Filmfestivals.