Die Nationalratspräsidentin oder der Nationalratspräsident leitet die Verhandlungen des Rates, legt im Rahmen der Sessionsplanung des Büros die Tagesordnung fest, leitet das Ratsbüro und vertritt den Rat nach aussen.
I. Wahl
Zu Beginn der
Wintersession wählt der
Nationalrat aus seiner Mitte für jeweils ein Jahr die Mitglieder des Ratspräsidiums, d. h. die Nationalratspräsidentin oder den Nationalratspräsidenten, die erste Vizepräsidentin oder den ersten Vizepräsidenten und die zweite Vizepräsidentin oder den zweiten Vizepräsidenten (Art. 152 BV;
Art. 6 Abs. 1 GRN;
Art. 34 ParlG). Der Rat trägt dabei der Stärke der
Fraktionen und den Amtssprachen angemessen Rechnung (Art. 6 Abs. 2 GRN). Die Präsidiumsmitglieder werden einzeln und nacheinander nach den Regeln für die
Bundesratswahlen gewählt (Art. 132 ParlG). Die Wiederwahl für das Folgejahr ist ausgeschlossen (Art. 152 BV).
Wird das Amt des Ratspräsidenten während der Amtsdauer, aber vor Beginn der Sommersession frei, erfolgt eine Ersatzwahl (Art. 6 Abs. 3 GRN). Kommt es später zur Vakanz, nimmt bis zur Wahl der neuen Präsidentin oder des neuen Präsidenten der erste Vizepräsident oder die erste Vizepräsidentin die Präsidialaufgaben wahr (Art. 6 Abs. 3 GRN e contrario;
Art. 7 Abs. 2 GRN).
II. Aufgaben und Befugnisse
Die Ratspräsidentin oder der Ratspräsident hat insbesondere folgende Aufgaben und Befugnisse:
III. Wortmeldung zur Sache und Stimmabgabe
Die Ratspräsidentin oder der Ratspräsident äussert sich in der Regel nicht zur Sache (Art. 7 Abs. 2 GRN a contrario) und stimmt nur dann mit, wenn die Zustimmung der
Mehrheit der Mitglieder jedes Rates erforderlich ist (Art. 80 Abs. 1 und Abs. 2 ParlG). Bei Stimmengleichheit fällt sie oder er den Stichentscheid (Art. 80 Abs. 1 Satz 2 ParlG).
Bei
Wahlen übt die Präsidentin ihr oder der Präsident sein Wahlrecht wie jedes andere Ratsmitglied aus. Sie oder er stimmt auch im Ratsbüro stets mit und fällt auch hier bei Stimmengleichheit den Stichentscheid (Art. 8 Abs. 4 GRN).
Fakten und Zahlen
Seit 1848 gab es 202 Nationalratspräsidentinnen und Nationalratspräsidenten.
Der Grund für diese hohe Zahl liegt primär bei den bis 1902 geltenden gesetzlichen Bestimmungen: Die Verfassungen von 1848 (Art. 75) und 1874 (Art. 86) hielten fest, dass sich die Räte «jährlich einmal zur ordentlichen Sitzung» zu versammeln hatten. Die Räte traten daher nur einmal pro Jahr zu einer Session zusammen, welche sie jeweils unterbrachen, um sie später fortzusetzen. Das
Geschäftsverkehrsgesetz (GVG) von 1849 legte den Beginn der Session auf den Sommer fest, während die Nationalratswahlen immer am letzten Sonntag im Oktober stattfanden. Der Beginn der Amtstätigkeit des neu gewählten Nationalrates fiel damit in die Mitte der Session. Der Nationalrat, der gemäss den Verfassungen von 1848 (Art. 67) und 1874 (Art. 78) und dem Geschäftsreglement von 1850 «für jede ordentliche [...] Sitzung einen Präsidenten» wählen musste, hatte deshalb für seine dreijährige Legislatur (wegen der ursprünglich dreijährigen Amtsdauer der Nationalräte) vier Präsidenten zu bestimmen, von denen der erste und der vierte nur ein halbes Jahr lang den Vorsitz führten.
Die Verfassungen von 1848 und 1874 bestimmten zudem, dass der Nationalrat für jede ausserordentliche Sitzung einen neuen Präsidenten wählen musste. Der Nationalrat hielt sich im 19. Jahrhundert gelegentlich an diese Bestimmung und führte vereinzelt für ausserordentliche Sessionen Neuwahlen durch.
Liste der Nationalratspräsidentinnen/-präsidenten seit 1848
Rücktritte und Ersatzwahlen gab es wenige, seit Beginn des 20. Jahrhunderts traten lediglich drei Nationalratspräsidenten zurück:
- 1902 musste Gustave Ador zurücktreten, nachdem ihm als Kommissar der Schweiz an der Weltausstellung 1900 in Paris das Band eines Grossoffiziers der Ehrenlegion verliehen worden war. Er wurde aber im selben Jahr wieder in den Nationalrat und 1917 in den Bundesrat gewählt.
- 1977 trat Hans Wyer aufgrund seiner Wahl in den Staatsrat des Kantons Wallis (Kantonsregierung) zurück.
- 2005 legte Jean-Philippe Maitre sein Amt als Nationalratspräsident wegen schwerer Krankheit nieder.
In allen drei Fällen wurde ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin (Ulrich Meister, Elisabeth Blunschy, Thérèse Meyer) gewählt.
In den ersten Jahren nach der Einführung der Proporzwahlen (1919) war noch kein parteipolitisch oder anderweitig definierter Turnus erkennbar. Ab 1927 begann sich allmählich die Formel «V-C-S-R» abzuzeichnen:
Von 1931 bis 1946 stellte die Fraktion der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (später: Schweizerische Volkspartei, SVP) in einer Legislaturperiode stets den ersten Präsidenten, die konservativ-christlichsoziale und spätere christlichdemokratische Fraktion immer den zweiten, die sozialdemokratische Fraktion den dritten und die freisinnig-demokratische Fraktion den vierten Präsidenten. Zwischen 1947 und 1999 durften die Liberalen oder die Unabhängigen jeweils zulasten der SVP-Fraktion den ersten Präsidenten jeder dritten Legislaturperiode vorschlagen; in dieser Zeitspanne stellte die SVP-Fraktion somit innerhalb von 12 Jahren nur zwei der drei ersten Präsidenten.
Nachdem die grüne Fraktion in den Wahlen 2003 und 2007 Sitze dazugewonnen hatte, wurde 2012 erstmals eines ihrer Mitglieder zur Nationalratspräsidentin gewählt. Diese einmalige Unterbrechung des bisherigen Turnus hatte zur Folge, dass seit 2015 die FDP-Liberale Fraktion nicht mehr die vierte oder den vierten, sondern die erste Präsidentin oder den ersten Präsidenten der Legislaturperiode stellt. 2021, neun Jahre später, unterbricht die Grüne Fraktion diesen Turnus zum zweiten Mal an gleicher Stelle.
Der Vizepräsident oder die Vizepräsidentin wurde in der Regel im Folgejahr zur Präsidentin oder zum Präsidenten gewählt (Ausnahmen seit 1919 waren die Jahre 1924, 1926, 1932 und 1970). Die Wahl der Präsidentin oder des Präsidenten wurde somit im Jahr zuvor, seit 1999 mit der Einführung der zweiten Vizepräsidentin oder des zweiten Vizepräsidenten sogar zwei Jahre im Voraus entschieden.
Bei der Wahl der Vizepräsidentin oder des Vizepräsidenten kam es seit 1970 ein einziges Mal zu mehreren Wählgängen: 1994 setzte sich der nicht offiziell kandidierende Liberale Jean-François Leuba erst im vierten Wahlgang gegen den Grünen Hanspeter Thür durch, nachdem Franz Jaeger (LdU), Jürg Scherrer (Freiheitspartei), Rudolf Keller (Schweizer Demokraten) und Max Dünki (EVP) bereits in früheren Wahlgängen ausgeschieden waren.
Seit 1960 erhielten die Ratspräsidentinnen und Ratspräsidenten bei ihrer Wahl durchschnittlich 156 Stimmen. Am wenigsten Stimmen erhalten hat bisher Elisabeth Blunschy 1977 (111), am meisten Isabelle Moret 2019 (193).
Die meisten Nationalratspräsidentinnen oder Nationalratspräsidenten haben die Kantone Bern (28), Zürich (24), Waadt (20), Aargau (14) und St. Gallen (11) gestellt. Bis heute bekleidete noch kein Nationalrat oder keine Nationalrätin aus den Kantonen Jura oder Obwalden dieses Amt.
Elisabeth Blunschy wurde 1977, sechs Jahre nach der Wahl der ersten Frauen in den Nationalrat 1971, die erste Nationalratspräsidentin. Bekleideten bis zur Jahrtausendwende weitere vier Frauen dieses Amt, wurden seither bereits zehn Frauen zur Nationalratspräsidentin gewählt, obwohl die Frauen im Nationalrat weiterhin untervertreten sind (1999: 24 Prozent; 2003: 25 Prozent, 2007: 28,5 Prozent, 2011: 28,5 Prozent, 2015 32,5 Prozent, 2019: 41 Prozent, 2023: 38,5 Prozent).
Zwei der bisher 15 Nationalratspräsidentinnen (Elisabeth Blunschy 1977 und Thérèse Meyer 2005) wurden in der Frühlingssession als Nachfolgerin eines zurückgetretenen Kollegen (Hans Wyer, Jean-Philippe Maitre) gewählt und waren somit nicht ein ganzes Jahr im Amt.
Das Durchschnittsalter der Nationalratspräsidentinnen oder Nationalratspräsidenten liegt bei 52,5 Jahren. Der jüngste Nationalratspräsident war 30-jährig (Alfred Escher 1849), der älteste 71-jährig (Eduard Blumer 1919).
Vor ihrer Wahl waren die Nationalratspräsidentinnen oder Nationalratspräsidenten durchschnittlich bereits 14,3 Jahre im Nationalrat.
Die Verfassung schliesst die Wiederwahl der Nationalratspräsidentin oder des Nationalratspräsidenten oder des in nur für das Folgejahr aus. Im 19. Jahrhundert wurden sechs Nationalräte zweimal und ein Nationalrat dreimal zum Ratspräsidenten gewählt, im 20. und 21. Jahrhundert gab es hingegen keine Wiederwahlen.
Vier Nationalratspräsidenten wurden später auch zum Ständeratspräsidenten gewählt, umgekehrt fungierten fünf Nationalratspräsidenten zuvor als Ständeratspräsidenten. (Heute führt die politische Karriere in der Regel vom Nationalrat in den Ständerat. In den ersten Jahren der Bundesversammlung war dies jedoch noch anders: In den Ständerat gewählte, aufstrebende Politiker versuchten, möglichst rasch in den Nationalrat zu wechseln. Die Gründe dafür waren einerseits, dass die Ständeratsmitglieder in den meisten Kantonen durch den Grossen Rat gewählt wurden und sich somit – im Gegensatz zu den Nationalräten – nicht auf eine durch direkte Volkswahlen gestützte Legitimität berufen konnten. Andererseits wurden die Ständeräte in mehreren Kantonen nur für ein Jahr gewählt.)
Von den insgesamt 202 Nationalratspräsidentinnen und Nationalratspräsidenten wurden 27 später in den Bundesrat gewählt.
Nationalratspräsident 2023/24
Faktenblatt: Nationalratspräsident/in (PDF)
Quellen
- «Fakten und Zahlen: Anzahl Nationalratspräsidentinnen/-präsidenten»: Paul Cron, Die Geschäftsordnung der Schweiz. Bundesversammlung; Universitätsbuchhandlung Freiburg in der Schweiz 1946, S. 74.
«Fakten und Zahlen: Wechsel ins Präsidium des Ständerates»: Jean-Francois Aubert, Die Schweizerische Bundesversammlung von 1848 bis 1998, Helbing & Lichtenhahn, Basel und Frankfurt am Main 1998, S. 49 f.; Giovanni Biaggini, Art. 148 BV N 9, in: Giovanni Biaggini, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Kommentar, Orell Füssli Verlag AG 2007, S. 679.