​Die eidgenössischen Wahlen fanden teilweise in einem angespannten oder sogar konfliktgeladenen politischen Umfeld statt. Ein Beispiel hierfür ist die Wahl im Tessin von 1854. In einem Klima, das von Gewalt, Einschüchterungen und politischen Attentaten geprägt war, gelang es einem Minderheitsbündnis alle Nationalratssitze für sich zu erobern. Unter dem Vorwand – tatsächlich bestehender – rechtlicher Unstimmigkeiten annullierte der mehrheitlich mit Radikalen besetzte Nationalrat die Wahlergebnisse aus dem Tessin.

Im Jahr 1854 war die politische Landschaft im Tessin gekennzeichnet von einem Bündnis zwischen den Linksradikalen und den Katholisch-Konservativen (die sog. «Fusion»). Diese Zusammenarbeit war Ausdruck der damals in einigen Kantonen aufkommenden Bemühungen, auf politischer Ebene nach Kompromissen zu suchen und die zunehmende Zentralisierung zu bekämpfen. Diese «unheiligen» Bündnisse wurden von der Mehrheitspartei, den Radikalen, missbilligt und als Gefahr für den Bundesstaat betrachtet.

Tatsächlich gelang es den Bündnispartnern, den so genannten «Fusionisti», die Wahl auf Kosten der Radikalen zu gewinnen, die sechs Tessiner Sitze (je drei Sitze in den Wahlkreisen 40 und 41) für sich zu erobern und ins Parlament einzuziehen.

Die Reaktionen darauf waren heftig und ziemlich feindselig. So schrieb beispielsweise die NZZ: «Aus Tessin meldete der Telegraph von gestern Abend, dass die vereinte Opposition gesiegt habe. Wir können dieser Nachricht keinen Glauben schenken. So unklug kann das Volk nicht sein, seine tüchtigen Repräsentanten zu übergehen. Das wäre ein arger Tropfen Gift in den Freudenbecher.»

Was folgte, trug nicht gerade zur Beruhigung der Lage bei. Die Tessiner Regierung wollte die Ergebnisse zunächst nicht veröffentlichen, gab dann aber doch jene des 41. Wahlkreises bekannt und – auf Druck des Bundesrates – schliesslich auch jene des 40. Wahlkreises. Die Ergebnisse erwiesen sich allerdings als ungenau, namentlich gab es Unregelmässigkeiten bei der Zahl der von der Opposition erhaltenen Stimmen. In der Folge wurde bekannt, dass die Wahlen im Tessin von Gewalttaten und Wahlbetrug begleitet worden waren. Der Bundesrat beauftragte Bundesstaatsanwalt Jakob Aniet damit, die Angelegenheit zu untersuchen. Auf der Grundlage von dessen Bericht kam die zuständige parlamentarische Kommission zum Schluss, dass ohne die (angeblich) von der Opposition orchestrierten Störungen die Radikalen als Sieger aus den Wahlen hervorgegangen wären.

Schliesslich wurde auch eine Unstimmigkeit zwischen Artikel 4 des «Bundesgesetzes betreffend die Wahl der Mitglieder des Nationalrathes» und Artikel 10 des Tessiner Wahlgesetzes festgestellt: So sah das Bundesgesetz vor, dass die Wahlberechtigten ihr Wahlrecht nur in ihrem Wohnort wahrnehmen können, während es das Tessiner Wahlgesetz den Wahlberechtigten erlaubte, in jedem Wahlkreis ihres Kantons zu wählen; eine Regelung, die Wahlbetrug Tür und Tor öffnet.

Der Nationalrat annullierte deshalb per Ratsbeschluss die Ergebnisse der Wahlkreise 40 und 41. Es versteht sich von selbst, dass die betroffenen Abgeordneten darüber nicht sehr glücklich waren. Die im Wahlkreis 40 gewählten Nationalräte erklärten beispielsweise, dass die der Opposition angelasteten Provokationen im Tessin in Wirklichkeit von der Regierungspartei ausgegangen seien. Die Proteste waren jedoch vergebens: Am 11. März 1855 wurde im Tessin erneut gewählt. Diesmal siegten die Radikalen mit grossem Vorsprung und zogen somit in den Nationalrat ein. Im Vorlauf zu den Neuwahlen war das Terrain für diesen Wahlsieg bereitet worden: Vom Februar an waren regierungstreue Milizionäre mit Waffengewalt gegen die Opposition vorgegangen. Mehrere Oppositionsführer wurden verhaftet und Fusionistenführer Leone Stoppani musste nach Paris fliehen. Die Bundesbehörden hiessen dieses als «Pronunciamento» bezeichnete Vorgehen gut.