​Die Volkswahl des Bundesrates ist ein Thema, das in der Schweiz regelmässig diskutiert wird. Tatsächlich gab es in der Anfangszeit des Bundesstaates eine Praxis, bei der die Bundesräte in gewisser Weise durch das Volk gewählt wurden.

In den ersten Jahrzehnten des neuen Bundesstaates mussten die Bundesräte, wenn sie von der Bundesversammlung wiedergewählt werden wollten, ein Ritual über sich ergehen lassen, das rechtlich nirgendwo so vorgesehen war: Um ihre Popularität beim Volk zu ermitteln, hatten sie in ihren Kantonen bei den Nationalratswahlen anzutreten. Misslang ihnen der Einzug in die Grosse Kammer, mussten sie auch den Bundesrat verlassen. Diese sogenannte «Komplimentswahl» wurde von den allermeisten Bundesräten problemlos überstanden. Doch für einige stellte die Wahl eine heikle Sache dar und für einige wenige bedeutete sie sogar das Ende der politischen Karriere.

Der Radikale Ulrich Ochsenbein war 1854 der erste Bundesrat, der nicht wiedergewählt wurde. 1848 wurde der damals als bekanntester und beliebtester Politiker des Kantons Bern mit dem besten Ergebnis aller Kandidaten in den Bundesrat gewählt. Doch sechs Jahre später hatte sich das politische Umfeld geändert: Obwohl Radikale und Konservative im Kanton Bern sogar eine gemeinsame Regierung bildeten, galt der für den Ausgleich eintretende Radikale Ochsenbein auf beiden Seiten als unzuverlässig. Da er sich immer mehr von seinen früheren radikalen Positionen distanzierte, verlor Ochsenbein auch die Unterstützung der Wählerschaft. Deshalb verpasste er bei den Nationalratswahlen 1854 den Einzug ins Parlament. Dementsprechend versagte ihm die Bundesversammlung auch die Wiederwahl in den Bundesrat.

Die Komplimentswahl zwang auch Bundesrat Paul Cérésole zur Aufgabe seines Amtes. Cérésole trat 1875 mangels Erfolgsaussicht gar nicht erst zu den Nationalratswahlen im Waadtland an und verzichtete in der Folge auch auf eine Wiederwahl in den Bundesrat.

Ein besonderer Fall ist derjenige des Tessiner Bundesrates Stefano Franscini (Radikale): Nachdem Frascini 1854 bei den Nationalratswahlen im Tessin gescheitert war, hätte er eigentlich seinen Posten räumen müssen. Doch stattdessen stellte er sich erfolgreich im Kanton Schaffhausen zur Wahl (wo zusätzliche Wahlgänge notwendig wurden). Bei den Bundesratswahlen wurde er dann, wenn auch erst im dritten Wahlgang, in seinem Amt bestätigt. Sein Misserfolg im Tessin war in erster Linie auf das politische Klima zurückzuführen, das zu diesem Zeitpunkt dort herrschte: Die Radikale Partei hatte sich geteilt und die Parteilinke trat gemeinsam mit den Konservativen gegen die Liberal-Radikalen an.

Allerdings reichte die Wahl in den Nationalrat nicht immer aus, um als Bundesrat wiedergewählt zu werden, wie der Fall von Jean-Jacques Challet-Venel (Radikale) zeigt. 1864 als erster Genfer in den Bundesrat gewählt, hatte er bereits ab 1866 um seinen Posten zu kämpfen. Viele Radikale wollten ihn ersetzen, weil er sich gegen die Totalrevision der Bundesverfassung, die 1872 ja auch abgelehnt wurde, und gegen jegliche Zentralisierung aussprach. Im Dezember 1872 wurde er trotz seines Erfolgs bei der Komplimentswahl nicht als Bundesrat wiedergewählt. Damit war er nach Ochsenbein der zweite Bundesrat in der Geschichte des Bundesstaates, der nicht im Amt bestätigt wurde.

Die Komplimentswahl der Bundesräte verlor nach und nach an Bedeutung und wurde noch vor dem Ende des 19. Jahrhunderts hinfällig.