Frauen wurden nicht nur physisch aus dem Gremium, die der modernen Schweiz Rahmen und Struktur gab, ausgeschlossen. Sie kamen auch in den Wortmeldungen der Verfassungsgeber nicht vor, erklärt die Historikerin der Uni Bern Brigitte Studer.


Bild: Albert Anker: Eine Gotthelf-Leserin

Schon die Zusammensetzung der Konstituante schloss Frauen aus. In der Bundesrevisionskommission, die zwischen Februar und April 1848 tagte, sassen politische Repräsentanten der kantonalen und lokalen Eliten, nur Männer.

Anders als die Diskriminierung der Juden blieb der weibliche Ausschluss von «Freiheit» und «Gleichheit» eine Leerstelle der Debatten, wie das offizielle Protokoll der Revisionskommission und private Notizen einzelner Teilnehmer zeigen. Dahinter steckt das, was Brigitte Studer als «historiographischen Mimetismus», als Verdoppelung des weiblichen Ausschlusses bezeichnet. Das Schweigen über den weiblichen Ausschluss prägte auch die Geschichtsschreibung, erklärt die Historikerin Brigitte Studer.


Parlamentsdienste: Was die Quellen ignorieren, ignorieren nicht selten auch die Historiker...

Brigitte Studer: Ja, und dabei wäre stattdessen zu fragen gewesen, welches Selbstverständnis der Staats- und Geschlechterordnung hinter dem Schweigen dieser staatstragenden Männer von 1848 stand. Inwiefern folglich das Schweizer Staatswesen auf einer Gesellschaftskonzeption beruht, die Frauen gedanklich und praktisch aus der Sphäre des Politischen verbannte. Die Geschichtswissenschaft hat sich bis vor einigen Jahrzehnten fast ausschliesslich mit institutionellen Bereichen der Vergangenheit beschäftigt, von denen Frauen im modernen Bundesstaat wegen ihres Geschlechts lange formal ausgeschlossen geblieben sind.


Seit wann interessiert sich die Wissenschat für die Rolle der Schweizer Frauen in der Öffentlichkeit?

Erst mit dem Aufkommen der Sozialgeschichte, der historischen Anthropologie und insbesondere der Geschlechtergeschichte ab den 1980er Jahren. Es sind aber vor allem einzelne Lokalstudien, die die weibliche Partizipation in den Wirren der Regenerationszeit aufgezeigt haben. Während der Freischarenzüge und des Sonderbundskriegs haben die Frauen auf beiden Seiten wichtige gesellschaftliche Aufgaben übernommen – meist in Form von Hilfsvereinen und anderen Unterstützungstätigkeiten der kämpfenden Männer. Schon nur wegen der oft fehlenden Überlieferung ist die historische Aufarbeitung dieser Frage zwar schwierig, doch fällt auf, dass die Historiker sie lange gar nicht gestellt haben.


Was wäre der nächste Schritt?

Ein wichtiger nächster Schritt wird es nun für die Geschichtswissenschaft sein, die noch disparaten Erkenntnisse zusammenzutragen und die historische Rolle der Frauen von den kantonalen Darstellungen in die nationalen Geschichtsbücher zu integrieren.


Petition einer Gruppe Freiburgerinnen in 1849 gegen fehlende politische Rechte

Am 5. Januar 1849 reichte eine Gruppe Freiburgerinnen an die Schweizer Bundesbehörden eine Petition ein: indirekt beanstandete sie ihre fehlenden politischen Rechte. Die Petition wurde ein Jahr später ganz offiziell im Bundesblatt festgehalten, erinnert die Historikerin Brigitte Studer.

Die Freiburger Patrizierinnen waren empört: die neu an die Macht gekommene radikale Kantonsregierung hatte sie als «auteurs et fauteurs du Sonderbund et de la résistance armée» zur Zahlung einer Strafsteuer verurteilt. Es sei unglaublich, dass Frauen für den Ausgang von Kämpfen und politischen Maximen verantwortlich gemacht würden, wenn das Gesetz sie gleichzeitig zu Minderjährigen erkläre und einer dauernden Vormundschaft unterwerfe. Und wie könne man drohen, ihnen die politischen Rechte zu entziehen, wenn sie solche gar nie gehabt hätten: «Les droits politiques dont elles n’ont jamais abusé parce qu’elles n’en ont point».

Die Idee der Gleichheit entsprach dem Zeitgeist

Das Prinzip der Gleichheit lag 1848 keineswegs ausserhalb des damaligen Wahrnehmungshorizonts, betont Brigitte Studer. «Das weibliche Geschlecht soll in allen Menschenrechten dem männlichen ganz gleich gestellt werden.» forderte schon 1830 der Berner Gelehrte Beat von Lerber in einer Eingabe an die Berner Regierung. Dass auch für Frauen das Gleichheitsprinzip gelten sollte, war zur Zeit der Bundesstaatsgründung aber noch sehr radikal. Und keinesfalls mehrheitsfähig. 

Die Aufklärung hatte diese Möglichkeit immerhin als Idee geboren. Die Freitagsgesellschaft in Luzern zum Beispiel traktandierte im Dezember 1795 die Frage, ob es allgemeingültige Gründe gebe, das weibliche Geschlecht gänzlich von den öffentlichen Geschäften auszuschliessen. Die Forderung nach der politischen Mitsprache der Frauen ertönte im Revolutionsjahr 1848 in mehreren Ländern. Für die Schweiz ist die Forderung von Frauenseite her erst für die Demokratisierungsbewegungen der 1860er Jahre dokumentiert, nicht nur in Zürich, sondern auch in Sissach.

Verpasstes Rendez-vous mit dem allgemeinen Wahlrecht

Der Ausbau der Volksrechte mit der Bundesverfassungsrevision von 1874 ging am weiblichen Geschlecht vorbei, die Interventionen zugunsten der rechtlichen Gleichstellung der Frauen im Zivilrecht und auf wirtschaftlicher Ebene blieben unberücksichtigt. Ab den 1880er Jahren mehrten sich aber die Stimmen, die laut und offensiv den Grundsatz der Rechtsgleichheit auch für die Schweizerinnen forderten. Bekanntlich dauerte es gleichwohl bis 1990, bis auch allen Staatsbürgerinnen das 1848 eingeführte angeblich «allgemeine» Stimmrecht gewährt wurde.

Das bürgerliche Familienideal

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts findet das bürgerliche Familienideal auch in der Arbeiterbewegung Resonanz und prägte bis weit ins 20. Jahrhundert auch die politischen Repräsentanten der Arbeiterschaft.

Eine nicht erwerbstätige Ehefrau und Mutter, die zuhause bleiben «durfte», galt als Zeichen des Fortschritts und Wohlstands. Die sozialpolitische Förderung dieses Modells wurde zunehmend als Familienschutz betrachtet.



Über Brigitte Studer

Brigitte Studer war Professorin für Geschichte des 19./20. Jahrhunderts an der Universität Bern. Sie lehrte auch an den Universitäten Genf, Zürich und Washington in St. Louis (USA) sowie an der EHESS (Paris). Ihr Buch «Frauenstimmrecht. Historische und rechtliche Entwicklungen 1848 – 1971 (mit Judith Wyttenbach)», wurde 2021 veröffentlicht.