Die Kommission für Rechtsfragen des Ständerats hat sich an ihrer Sitzung mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschrechte (EGMR) i.S. «Verein KlimaSeniorinnen Schweiz und andere gegen die Schweiz» vom 9. April 2024 befasst. Die Kommission ist der Meinung, dass das Urteil zahlreiche wichtige institutionelle und staatspolitische Fragen aufwirft.

Die Kommission hat sich zunächst vom Direktor des Bundesamts für Justiz, Herrn Michael Schöll, über die Hintergründe der Wahl des Schweizer Prozessbevollmächtigten, Herrn Alain Chablais, zum Richter am EGMR für das Land Liechtenstein informieren lassen. Sie hat dabei festgestellt, dass diese Wahl für die Schweiz weder in institutioneller, noch zeitlicher, noch inhaltlicher Hinsicht problematisch ist. Sie ist der Ansicht, dass die Wahrung der Schweizer Interessen vor dem Gerichtshof in diesem Verfahren jederzeit gewährleistet war.

Die Kommission hat sodann entschieden, dass sie im Rahmen einer Zusatzsitzung am 21. Mai 2024 diverse Expertinnen und Experten aus Rechtsprechung und Wissenschaft zu Anhörungen einladen wird. Sie wird sich dabei insbesondere auf die institutionellen und staatspolitischen Aspekte des Urteils und die Frage seiner Auswirkungen auf das direktdemokratische System der Schweiz konzentrieren.

Baumängel sollen länger geltend gemacht werden können

Die Kommission hat sich an mehreren Sitzungen eingehend mit der Vorlage zur Revision des Kauf- und Werkvertragsrechts befasst, die eine Stärkung der Position der Bauherren respektive der Käuferinnen von Immobilien im Falle von Baumängeln vorsieht (22.066). Die Beschlüsse des Nationalrats, der auf die Rügefristen verzichten wollte und stattdessen eine Schadenminderungspflicht während einer auf 10 Jahre verdoppelten Verjährungsfrist vorsah, gingen der Kommission klar zu weit. Für sie würde ein solcher Systemwechsel zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit führen, der in der Praxis mit grossen beweisrechtlichen Schwierigkeiten verbunden wäre. Sie hat deshalb entschieden, sich von der Konzeption her am Modell des Bundesrats zu orientieren und grundsätzlich eine Rügefrist von 60 Tagen vorzusehen. Sie übernimmt jedoch den Vorschlag des Nationalrates, wonach diese Rügefrist auch für Sachen gelten soll, die bestimmungsgemäss in ein unbewegliches Werk integriert worden sind. Wie der Nationalrat ist auch die Kommission der Ansicht, dass diese Fristen teilzwingend sein sollen und in Zukunft nicht mehr verkürzt werden können. Anders als der Nationalrat hält die Kommission jedoch an der heute geltenden 5-jährigen Verjährungsfrist fest. Die Kommission hat diese entsprechend abgeänderte Vorlage in der Gesamtabstimmung mit 10 zu 0 Stimmen einstimmig angenommen. Sie wird vom Ständerat in der Sommersession beraten werden.

E-ID-Gesetz

Die Kommission ist ohne Gegenantrag auf das Bundesgesetz über den elektronischen Identitätsnachweis und andere elektronische Nachweise (23.073) eingetreten. Die Kommission erachtet den Aufbau einer digitalen Infrastruktur für die Ausstellung und Überprüfung elektronischer Nachweise wie der E-ID als ein unverzichtbares Schlüsselprojekt für die digitale Transformation in der Schweiz. Im Gegensatz zum ersten E-ID-Gesetz, welches in der Volksabstimmung 2021 scheiterte, ist in der neuen Vorlage vorgesehen, dass die E-ID vom Bund und nicht von Privaten herausgegeben wird. Die Kommission wird an einer ihrer nächsten Sitzungen die Detailberatung der Vorlage führen.

Keine Gefährdung des Rechtsschutzes durch Sanktionen

Die Kommission beantragt ihrem Rat mit 8 zu 3 Stimmen bei 1 Enthaltung die Annahme der Motion Rieder 23.4531 «Rechtsstaatlichkeit wiederherstellen». Diese verlangt, dass die «Rechtsberatung» aus Art. 28e der Verordnung über Massnahmen im Zusammenhang mit der Situation der Ukraine vom 4. März 2022 zu entfernen sei. Die Kommission ist der Ansicht, dass ein Verbot von anwaltschaftlichen Dienstleistungen nicht grundrechtskonform ist. Eine Minderheit der Kommission beantragt die Ablehnung der Motion und verweist darauf, dass die Schweiz die Entwicklungen in der EU in dieser Frage abwarten sollte.

Die Kommission hat am 23. April 2024 unter dem Vorsitz von Ständerat Daniel Jositsch (SP, ZH) in Bern getagt.