Während seines Präsidialjahres 2016/17 musste Ständerat Ivo Bischofberger die Tagespolitik zurückstellen. Er konnte sich dafür stärker institutionellen Fragen widmen und der Präsidentenstuhl bot ihm im wahrsten Sinn des Wortes die Gelegenheit, auf die kleine Kammer hinunter zu blicken und sich über ihr Funktionieren und ihre Entwicklung einige Gedanken zu machen.

Als Historiker neige ich dazu, die Geschichte von hinten aufzurollen. Blicken wir also 169 Jahre zurück. Ins Jahr 1848: In vielen Regionen Europas kämpfen Bürger gegen die alte Ordnung in ihren Ländern. Die Schweiz ist bereits einen Schritt weiter. Der Sonderbundskrieg ist eben zu Ende gegangen. Die Wunden sind noch nicht verheilt. Aber man rafft sich auf, schaut vorwärts und will etwas Neues wagen – obwohl vielen die Idee eines Bundesstaates nicht Geheuer ist. Eine Gruppe von 21 Männern soll im Auftrag der Tagsatzung den Bundesvertrag von 1815 revidieren. Einer der grossen Streitpunkte ist die Organisation eines Eidgenössischen Parlaments. Nach mühseligem Ringen legt die Kommission einen Kompromiss vor: ein Zweikammersystem nach amerikanischem Vorbild. Beide Räte sind einander gleichgestellt. Sie müssen übereinstimmende Beschlüsse fassen, damit Gesetze in Kraft treten können – das ist ein aussergewöhnlicher Vorschlag. Dieses System von zwei gleichberechtigten Kammern mit unterschiedlicher Vertretung der Kantone soll für Ausgewogenheit im neuen Bundesstaat sorgen. Doch die progressive Presse ist nicht zufrieden und stänkert gegen die Kammer der Kantone. Im Laufe des Sommers 1848 finden entscheidende Abstimmungen in den Kantonen statt. Trotz kritischer Berichterstattung nehmen 16 1/2 Stände die neue Bundesverfassung an.

Das neue Bundesparlament kommt erstmals am 6. November 1848 zusammen. Die Kammern tagen - im Gegensatz zu heute - nicht unter dem gleichen Dach. Der Nationalrat debattiert im Berner Rathaus. Der Ständerat hält seine Sitzungen im «Äusseren Stand» an der Zeughausgasse ab, wo sinnigerweise die jungen Bernburger in spielerischer Manier die Obrigkeit der Republik Bern nachahmen. Politische Bildung «à l’ancienne».

 

Eine historische Aufnahme des Rathauses «zum Äusseren Stand» an der Berner Zeughausgasse. Hier tagte der Ständerat die ersten 10 Jahre.

An politischer Erfahrung mangelt es den Kantonsvertretern nicht, setzt sich die Ständekammer doch bereits in den frühen Parlamentsjahren mehrheitlich aus Legislativpolitikern, amtierenden und ehemaligen Regierungsräten sowie aus Verfassungsräten und Tagsatzungsmitgliedern zusammen. Während der ersten Sessionen geht es im neuen Bundesparlament turbulent zu. Schnell ist klar, wer das Sagen hat. Ein Sitz im Nationalrat ist viel erstrebenswerter, obwohl er 111 Mitglieder hat. Die grosse Kammer gilt wegen der Dominanz des radikal-liberalen Lagers als progressiv und wichtig. Der Ständerat als altbacken, überholt und deshalb als bedeutungslos. Das hängt auch mit dem Wahlsystem zusammen. Die Nationalräte werden vom Stimmvolk gewählt, die Ständeräte von den Kantonsregierungen oder -parlamenten – und je nach Kanton oft nur befristet, für eine Session oder für ein, zwei Jahre. Zudem können die Stände ihre Abgesandten jederzeit abberufen. Unter solchen Voraussetzungen ist es schwierig, sich zu profilieren und das Amt als Ständerat ist wenig attraktiv. Den Ständerat als Rumpel- oder Abstellkammer zu bezeichnen, ist in dieser Zeit nicht verkehrt. Wer kann, versucht sich in den Nationalrat wählen zu lassen.
Ungünstig wirkt sich auf das Renommee des Ständerates auch die Zuteilung der Geschäfte aus: Zwar beschliessen die Kammern bereits zu Beginn der Sommersession 1849, die beiden Ratspräsidenten sollten untereinander ausmachen, «von welchem Rate jedes Geschäft zuerst zu behandeln sei». Doch die Volksvertreter bringen es irgendwie fertig, sich die meisten und vor allem die wichtigsten Geschäfte zuerst zu sichern. Dem Ständerat bleibt zuweilen nichts Anderes übrig, als auf eine Sitzung zu verzichten, was für spöttische Kommentare und in konservativen Blättern für bissige Repliken sorgt.
Rein rechnerisch betrachtet, gleicht sich das Ungleichgewicht in der zweiten Legislaturperiode aus. Der Ständerat berät nunmehr die Hälfte der Geschäfte zuerst. Aber bei den wichtigen Geschäften setzt die grosse Kammer ihren Prioritätsanspruch durch.


 
Ein Haus, zwei Kammern: Im Süden des Parlamentsgebäudes tagt seit 1902 der Nationalrat, auf der Nordseite der Ständerat.

Ende 2017 ist das Bundesparlament ein anderes. Seit bald 160 Jahre tagen National- und Ständerat im gleichen Gebäude. Der «verfassungsmässige Organismus» ist nicht nur architektonisch verbunden, beide Kammern leben dem Grundsatz der Gleichberechtigung nach. Die Bundesversammlung kann ihre Kompetenzen nur durch übereinstimmenden Beschluss beider Räte ausüben. Neben der Schweiz kennt heute in Europa nur Italien ein solches, sogenannt perfektes Zweikammersystem. Andernorts sind die Kompetenzen und Aufgaben beider Kammern so unterschiedlich wie die Länder selbst.
  
Verfassungsmässig gleichgestellt heisst aber nicht, dass die beiden Räte genau gleich sind: Es gibt Unterschiede. Kleine, feine, aber auch grössere, bedeutendere. Sie finden sich bereits in der Garderobe: Jede Ständerätin, jeder Ständerat hat einen persönlichen Kleiderhaken, der mit einem Namensschild versehen ist. Den Mitgliedern des Nationalrates stehen nur namenlose Kleiderbügel zur Verfügung. Wir kennen noch den «Morgenappell», bei dem jedes Ratsmitglied aufgerufen wird, die Nationalräte bekunden ihre Anwesenheit mit ihrer Unterschrift auf einem aufgelegten Bogen Papier. Bei uns gilt Krawattenpflicht, die Volksvertreter nehmen es diesbezüglich lockerer. Unsere Voten werden nicht simultan übersetzt, die Redezeit ist nicht beschränkt und alle sprechen von ihrem Platz aus. Der Gebrauch von Laptops ist bei uns im Saal nach wie vor nicht erlaubt. Dafür sind seit der Frühlingssession 2017 Tablets zugelassen. Bald sollen sogar unsere Ratsunterlagen direkt elektronisch an alle Ratsmitglieder gehen. Damit ist das als altmodische geltende Stöckli technisch dem Nationalrat eine Nasenlänge voraus.  

 
    

Gleiche Kompetenzen, kleine Unterschiede: Jeder Ständerätin, jedem Ständerat steht ein ein mit dem Namen versehener Kleiderhaken zur Verfügung

Es gibt auffälligere Unterschiede, dazu gehören zum Beispiel die Abstimmungen: Bis vor drei Jahren wurde im Stöckli noch per Handerheben abgestimmt. Aber weil es kompliziert und nicht immer ganz verlässlich war, stimmen wir seit dreieinhalb Jahren per Knopfdruck ab.  Im Unterschied zum Nationalrat veröffentlicht der Ständerat aber nicht alle Abstimmungsresultate in Form von Namenslisten. Nur bei Gesamtabstimmungen, Schlussabstimmungen oder wenn es eine Mindestzahl von Ratsmitgliedern verlangt, wird publiziert, wer wie gestimmt hat.
Noch unterschiedlicher sind das Selbstverständnis und die Wesenszüge der beiden Kammern. Der Nationalrat ist lebhafter, lauter und unpersönlicher. Demgegenüber geht es im kleinen Rat ruhiger zu. Er wird wegen seiner Gesprächskultur auch „Chambre de Réflexion“ genannt. Weil wir alle das Wort zu allen Themen ergreifen können, und auf Voten der Kollegen auch nochmals antworten können, gibt es bei uns immer wieder «echte» und spannende Debatten
Der Ständerat kennt keine Fraktionen. Wir verstehen uns als Kantonsvertreter, deshalb spielt die politische Couleur der einzelnen Mitglieder weniger eine Rolle als im Nationalrat, wo Fraktionsdisziplin die Regel ist. In der Tendenz sitzen die Standesvertreter zwar auch immer mehr unter ihresgleichen, während früher die Sitzordnung nach Kantonen oder Sprachen gewählt wurde. Wir sind «eingemitteter. Anders als im Nationalrat sind CVP, FDP und SP im Stöckli etwa gleich stark. Das heisst, in unserem Rat gibt es andere Mehrheiten als im Nationalrat.
Heute gilt – und das ist ein bemerkenswerter Unterschied zu den frühen Jahren des Bundesparlaments – der Ständerat als der attraktivere Rat – eine kühne Aussage, aber ich kann sie mit konkreten Beispielen illustrieren.
 
Obschon wir Ständeräte unsere Kantone vertreten und von der Bevölkerung der Kantone nach kantonalem Recht gewählt werde, so sind wir doch Mitglieder eines Bundesorgans. Trotzdem sind Ständeräte den Kantonen enger verbunden als die Mitglieder der grossen Kammer. Das heisst aber nicht, dass wir einfach die Partikularinteressen unseres eigenen Kantons besonders berücksichtigen. Vielmehr geht es im Ständerat darum, Lösungen zu finden, die der föderalen Struktur unseres Landes am besten Rechnung tragen. Es besteht für uns deshalb die gesetzliche Pflicht, bei der Beratung neuer Geschäfte die Kantone anzuhören, sofern sie das wünschen. Der Nationalrat kennt keine solche Vorschrift.
Dass dies Folgen hat, belegt eine Studie der Universität Bern, die zwar etwas in die Jahre gekommen ist, aber immer noch zutreffen dürfte: Kommt der Ständerat bei der Beratung eines Geschäfts als Erster an die Reihe, so tragen die Vorlagen föderalistischen Anliegen mehr Rechnung als wenn der Nationalrat Erstrat ist. Auch nach der Behandlung durch den Nationalrat bleibt das so.
 
Interessantes brachte auch eine Nachfolgestudie zu Tage – die einen Bezug herstellt zur Situation um 1848 -, aber nun ein komplett anderes Bild zeigt: Da der Ständerat inzwischen häufiger als Erstrat bezeichnet wird, ist sein Einfluss auf die Gesetzgebung grösser. Man nennt dies Agenda-Setting-Effekt. Oder anders ausgedrückt: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.
Schliesslich kennen die Ständeräte und Ständerätinnen die Ratsgeschäfte besser, weil sie alle in mehreren Kommissionen sitzen, während im Nationalrat mehr als ein Kommissionssitz die Ausnahme ist. Und sie sind in der Bevölkerung breiter abgestützt, weil wir uns in fast allen Kantonen einer Majorzwahl stellen müssen.
All diese Faktoren führen letztlich dazu, dass der Ständerat als die «gewichtigere» Kammer wahrgenommen wird – und ein Wechsel heute offenbar einen «Karrieresprung» darstellt: Von meinen 45 Kolleginnen und Kollegen haben 19 den «Umweg» über den Nationalrat genommen – umgekehrt gab es in den letzten Jahren nur einen Wechsel vom «Stöckli» in die grosse Kammer.



 

Bei diesem Beitrag handelt es sich um die Kurzfassung eines Referats, das alt Ständeratspräsident Ivo Bischofberger anlässlich der Jahresversammlung der Appenzellischen Gemeinnützigen Gesellschaft (AGG) am 25. November 2017 in Stein AR gehalten hat.

 

Quellen:

  • www.parlament.ch
  • Die Anfänge der Schweizerischen Bundesversammlung, Jürg Düblin, Francke Verlag 1978
  • Das frühe Bundesparlament: der erfolgreiche Weg zur modernen Schweiz, Leonard Neidhardt; NZZ Libro 2010
  • Zwei Kammern, ein Parlament: Ursprung und Funktion des schweizerischen Zweikammersystems; Urs Marti, Huber Verlag, 1990
  • NZZ-Archiv
  • Das Verhältnis von National- und Ständerat im Differenzbereinigungsverfahren. Eine Analyse von Einflusspotenzial und Koalitionsverhalten. Studie im Auftrag der Parlamentsdienste der Schweizerischen Bundesversammlung. August 2008
  • Das politische System der Schweiz, Adrian Vatter, UTB, 2017
  • Historisches Lexikon der Schweiz