Der Nationalrat in Kürze
Bern (sda)
DROGEN: Wissenschaftliche Studien zu Cannabis sollen nach Ansicht des Nationalrats nun doch erlaubt werden. Die grosse Kammer hat vier gleichlautende Vorstösse für eine Lockerung im Umgang mit Cannabis am Mittwoch mit 98 zu 92 Stimmen bei 2 Enthaltungen knapp angenommen. Damit vollzog der Nationalrat eine Kehrtwende. Noch im Juni hatte der Rat eine gleichlautende Motion knapp abgelehnt. Die Vorstösse verlangen, dass ein Experimentierartikel im Betäubungsmittelgesetz verankert wird, um Versuche zur regulierten Abgabe von Cannabis zu ermöglichen. Die Motionäre versprechen sich davon wertvolle Impulse für die Bewältigung der Probleme im Umgang mit Cannabis. Der Bundesrat hat bereits eine Gesetzesänderung angestossen.
RECHT: Das Schweizerische Institut für Rechtsvergleichung bekommt schlankere Strukturen. Geführt wird es künftig von Institutsrat und Direktion. Der Ausschuss entfällt. Der Institutsrat hat nur noch 9 statt 22 Mitglieder. Das hat das Parlament beschlossen. Der Nationalrat stimmte als Zweitrat einstimmig einer Totalrevision der Rechtsgrundlagen zu. Ausdrücklich im Gesetz verankert wird die Unabhängigkeit des Instituts in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Das Institut für Rechtsvergleichung erstellt für Behörden und Private Gutachten über ausländisches Recht.
STRAFEN: Wer gegen das Gesetz verstossen hat, soll sich nicht mehr so leicht wie heute von einer Strafe freikaufen können. Gegen den Willen der SVP hat der Nationalrat höhere Hürden für die Wiedergutmachung beschlossen. Künftig sollen die Behörden auf Strafverfolgung oder Strafe verzichten können, wenn eine bedingte Freiheitsstrafe von einem Jahr in Frage käme und der Täter geständig ist. Heute liegt die Grenze bei zwei Jahren. Hintergrund sind verschiedene Fälle, in welchen sich Straftäter freikaufen konnten.
WAHLVERFAHREN: Das Parlament will den Kantonen freie Hand lassen in der Frage, wie sie ihre Behörden wählen. Nach dem Ständerat hat sich auch der Nationalrat im Grundsatz einverstanden gezeigt. Er beschloss mit 93 zu 90 Stimmen bei 2 Enthaltungen, auf die Vorlage einzutreten - gegen den Willen seiner Kommission. Damit geht diese zur Detailberatung an die Kommission zurück. Die Änderung geht auf Standesinitiativen der Kantone Zug und Uri zurück. Ziel ist es, den Kantonen mehr Freiheit einzuräumen beim Verfahren zur Wahl ihrer Behörden. Das Bundesgericht hatte die Anforderungen ans Wahlsystem in den letzten Jahren immer mehr präzisiert.
TERRORISMUS: Terroristen sollen auch dann ausgewiesen werden, wenn ihnen im Herkunftsland Folter droht. Das fordert der Nationalrat. Er hat eine Motion von Fabio Regazzi (CVP/TI) mit 102 zu 72 Stimmen bei 3 Enthaltungen angenommen. Gemäss dem Motionstext soll der Artikel eines Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge einem Artikel in der Bundesverfassung vorgehen. In der Bundesverfassung steht, dass niemand in einen Staat ausgeschafft werden darf, in dem ihm Folter oder eine andere Art unmenschlicher Behandlung droht. Die gleiche Garantie ist in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert. Im Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ist festgehalten, dass sich ein Flüchtling nicht auf das Ausweisungsverbot berufen kann, wenn er als Gefahr für die Sicherheit angesehen werden müsse.
MEINUNGSFREIHEIT: Ein politischer Auftritt eines ausländischen Redners soll hierzulande wieder bewilligungspflichtig werden. Das verlangt der Nationalrat. Er unterstützte eine Motion von Daniel Fässler (CVP/AI) knapp mit 90 zu 85 Stimmen bei 3 Enthaltungen. Nach Ansicht des Motionärs hat sich die frühere Bewilligungspflicht bewährt. Er verwies auf den umstrittenen Auftritt des türkischen Staatspräsidenten Erdogan im Juli 2016. Die Schweiz tue gut daran, für ähnliche Situationen vorzusorgen. Der Bundesrat erachtet eine Bewilligungspflicht als unverhältnismässig und verfassungswidrig.
SICHERHEIT: Die Kantone haben es bisher nicht geschafft, einheitliche Standards für Sicherheitsfirmen einzuführen. Nun will der Nationalrat dem Wildwuchs ein Ende bereiten. Er hat eine Motion von Priska Seiler Graf (SP/ZH) stillschweigend angenommen. Diese verlangt eine nationale Regelung für Sicherheitsfirmen. Nach dem Scheitern des interkantonalen Konkordats sei das Risiko gross, dass der Kanton mit dem niedrigsten Regelungsniveau den Standard für die gesamte Schweiz diktiere, warnt Seiler Graf. Auch der Bundesrat und der Verband Schweizerischer Polizei-Beamter sehen den Zeitpunkt gekommen, bundesrechtliche Mindestvorschriften zu erlassen. Als nächstes entscheidet der Ständerat. Der Ständerat will die Aufgabe den Kantonen überlassen.
KRANKENKASSEN: Wer seine Krankenkassenprämien nicht bezahlt hat, wird in manchen Kantonen nur in Notfällen medizinisch versorgt. Nun sollen die Kantone die Notfallbehandlungen umschreiben müssen. Das fordert der Nationalrat. Er hat eine Motion seiner Gesundheitskommission stillschweigend angenommen. Bea Heim (SP/SO) wies im Namen der Kommission darauf hin, dass es bereits einen Todesfall wegen unterlassener Hilfe gegeben habe. Kantone mit schwarzen Listen säumiger Prämienzahler müssten den Notfallbegriff umschreiben und so Klarheit schaffen. Bei der Definition sollen sich die Kantone am Urteil des Versicherungsgerichts St. Gallen orientieren. Dieses fasst die Definition einer Notfallbehandlung wesentlich weiter als manche Krankenkassen. Nun ist der Ständerat an der Reihe.
FAMILIENZULAGEN: Die Kantone sollen bei Familienausgleichskassen zwingend für einen vollen Lastenausgleich sorgen müssen. Diesen Auftrag hat das Parlament dem Bundesrat erteilt. Ziel ist eine Angleichung der heute unterschiedlichen Beitragssätze. Der Nationalrat überwies eine Motion von Ständerat Isidor Baumann (CVP/UR) mit 137 zu 33 Stimmen bei 3 Enthaltungen. Es gehe darum, einen Systemfehler zu beheben, erklärte Lorenz Hess (BDP/BE). Um Wettbewerbsnachteile und eine übermässige Belastung der Tieflohnbranchen zu beseitigen, müsse auch in der Familienzulage der soziale Lastenausgleich vorgeschrieben werden.
MEDIZINISCHE BEHANDLUNGEN: Der Bundesrat soll Massnahmen ausarbeiten, um die Patientensicherheit bei medizinischen Behandlungen zu erhöhen. Der Nationalrat hat eine entsprechende Motion seiner Gesundheitskommission angenommen. In die Pflicht nehmen will er auch die Kantone, Ärzte, Patientenorganisationen und Krankenkassen. Konkret fordert die Kommission, dass eine stärkere Sicherheits- und Fehlerlernkultur implementiert und bei fehlerhaften Eingriffen die Beweissituation verbessert wird. Nun entscheidet der Ständerat.
EL-MISSBRAUCH: Der Nationalrat will den Missbrauch von Ergänzungsleistungen systematisch bekämpfen. Er hat eine Motion der Gesundheitskommission angenommen. Dieser geht es insbesondere um nicht deklarierte Immobilien im Ausland. Ein national einheitliches Konzept soll dazu beitragen, diese aufzudecken. Die Kommission orientiert sich an der IV, wo ein systematisches Vorgehen zu Erfolgen geführt hat. Gesundheitsminister Alain Berset erinnerte an den Informationsaustausch mit der EU und an den automatischen Informationsaustausch ab 2019. Zudem sei derzeit die Revision des Sozialversicherungsrechts hängig, die zahlreiche Instrumente zur Missbrauchsbekämpfung vorsehe.
GESUNDHEIT: Öffentliche Spitäler sollen häufiger Leistungen öffentlich ausschreiben müssen. Das verlangt der Nationalrat. Dadurch erhofft er sich eine finanzielle Entlastung der Kantone. Kantone richteten unter dem Begriff "gemeinwirtschaftliche Leistungen" jedes Jahr hunderte Millionen Franken an Spitäler aus, erklärte Verena Herzog (SVP/TG), von der die Motion stammt. Diese Zahlungen geschähen in grösster Intransparenz und freihändig. Gesundheitsminister Alain Berset erklärte, der Bund besitze keine rechtliche Grundlage für einen Eingriff, weil er auch nicht für die gemeinwirtschaftlichen Leistungen aufkomme. Diese Argumentation überzeugte den Nationalrat nicht. Er hiess die Motion mit 100 zu 92 Stimmen gut. Nun ist der Ständerat an der Reihe.
DIGITALISIERUNG: Plattformarbeit nimmt ständig zu. Der rechtliche Status des neuen Arbeitsmodells ist bisher kaum geklärt. Der Nationalrat verlangt nun Auskunft vom Bundesrat. Er hat ein Postulat der FDP mit 138 zu 52 Stimmen angenommen. Die Fraktion verlangt einen neuen Status für Plattform-Beschäftigte zwischen Selbständigkeit und Angestelltenstatus. Die SP warnte, dass das für Angestellte auf jeden Fall schlechtere Bedingungen bedeute. Sozialminister Alain Berset betonte, dass das Ergebnis des Berichts offen sei.
LABOR: Die Tarifpartner sollen künftig auch die Tarife von medizinischen Laboranalysen verhandeln. Das verlangt das Parlament. Der Nationalrat hat eine Motion aus dem Ständerat angenommen. Ziel ist es, dass innovative Laboranalysen rascher vergütet werden können. Die Räte sind der Meinung, dass die Genehmigung des Tarifs durch das Innendepartement EDI zu lange dauert. Gesundheitsminister Alain Berset zeigte sich vom Gegenteil überzeugt. Das Resultat werde Blockade und Stillstand sein, warnte er. Er erinnerte an die gescheiterten Verhandlungen über den Ärztetarif Tarmed. Am Ende musste der Bundesrat entscheiden.
GESUNDHEITSWESEN: Die Behandlung von chronisch Kranken soll besser gesteuert und koordiniert werden können. Das verlangt der Nationalrat. Er hat eine Motion seiner Gesundheitskommission einstimmig gutgeheissen. Sagt der Ständerat ebenfalls Ja, kann der Bundesrat eine Gesetzesänderung ausarbeiten. Nach dem Willen der Kommission sollen Krankenkassen die Leistungen von Programmen zur Patientensteuerung übernehmen müssen. Bedingungen wären, dass die Programme auf eine bestimmte Patientengruppe beschränkt sind, dass sie zur Effizienz- und Qualitätssteigerung beitragen und dass sie zwischen Ärzten und Spitälern einerseits und den Kassen andererseits vereinbart wurden.
SPITÄLER: Die 2012 eingeführte freie Spitalwahl läuft noch nicht ganz rund. Ein Problem ist der Tarif, der bei Behandlungen in einem Spital ausserhalb des Wohnkantons angewendet wird. Vergütet wird grundsätzlich der Tarif des Wohnkantons. Einige Kantone wenden in diesen Fällen jedoch zu tiefe Tarife an. Dem will die Gesundheitskommission des Nationalrat einen Riegel schieben. Mit einer Motion will sie erreichen, dass bei ausserkantonalen Wahlbehandlung der maximale Tarif des Wohnkantons vergütet wird, höchstens aber der Tarif des Standortspitals. Der Nationalrat hat dem Vorstoss stillschweigend zugestimmt. Gesundheitsminister Alain Berset hatte ebenfalls keine Einwände.
DATENSCHUTZ: Der Bundesrat muss ein Sicherheitskonzept erstellen für die Verwendung der dreizehnstelligen AHV-Nummer. Dazu hat ihn der Nationalrat mit einem Postulat beauftragt. Er hat ein Postulat seiner Rechtskommission stillschweigend angenommen. Hintergrund sind Bedenken beim Datenschutz. Die Räte hatten es in der Vergangenheit abgelehnt, die AHV-Nummer zur Identifikation von Personen zu verwenden - etwa im Grundbuch. Der Bundesrat ist sich der Problematik bewusst. Er hat deshalb das Innendepartement beauftragt, eine Vorlage zu erarbeiten, mit der die systematische Verwendung im Behördenverkehr unter klar definierten Bedingungen geregelt wird.
BESCHWERDE: Krankenkassen sollen Beschwerde führen können gegen die Zulassung von Spitälern oder Pflegeheimen. Das verlangt der Nationalrat mit einer Motion, die seine Gesundheitskommission eingereicht hatte. Er rennt damit offene Türen ein. Der Bundesrat hatte letzte Woche ein Kostendämpfungsprogramm für das Gesundheitswesen in die Vernehmlassung geschickt. Darin ist ein Beschwerderecht für Krankenkassenverbände vorgesehen. Gesundheitsminister Alain Berset rief erfolglos dazu auf, das Ergebnis der Vernehmlassung abzuwarten.
PFLEGEMATERIAL: Wegen eines Entscheids des Bundesverwaltungsgerichts müssen Krankenkassen Pflegematerial wie Wundverbände oder Spritzen nicht mehr separat vergüten. Die Kosten bleiben an Pflegeheimen, Spitexorganisationen und letztlich an Kantonen oder Gemeinden hängen. Die Gesundheitskommission des Nationalrats verlangt mit einer Motion, dass das Pflegematerial wieder von den Krankenkassen vergütet wird. Der Bundesrat sei dagegen, dass Pflegematerial separat abgerechnet werde, sagte Gesundheitsminister Alain Berset. Er lehnte die Motion daher ab. Der Nationalrat nahm diese allerdings einstimmig an. Der Ständerat hatte am Vortag eine entsprechende Motion zur Vorprüfung an deine Kommission geschickt.
TABAK: Der Nationalrat will Tabakwerbung in Print- und Online-Medien nicht verbieten. Er hat eine entsprechende Motion abgelehnt. Diese forderte ein Verbot für Werbung, die für Minderjährige leicht zugänglich ist, insbesondere in Gratismedien. Es gelte, eine Lücke zu schliessen, sagte Niklaus-Samuel Gugger (EVP/ZH), der die Motion eingereicht hatte. Die Mehrheit war anderer Meinung. Es gebe bereits Tabakverbote in Restaurants, Einschränkungen beim Verkauf und weitere Verbote, sagte Thomas de Courten (SVP/BL). Trotzdem rauchten wieder mehr Jugendliche. Weitere Verbote seien unwirksam und in sozialen Medien auch nicht umsetzbar. Der Bundesrat unterstützt das Anliegen hingegen. Er hat im Tabakproduktegesetz entsprechende Vorschläge gemacht und wurde dafür in der Vernehmlassung kritisiert.
GESUNDHEITSKOSTEN: Der Bundesrat muss keine Statistik erstellen über die Gesundheitskosten von Asylsuchenden und Sans-Papiers. Der Nationalrat hat eine Motion von SVP-Nationalrat Raymond Clottu (NE) mit dieser Forderung abgelehnt. Er vermutete, dass diese Gruppen überdurchschnittlich hohe Gesundheitskosten verursachen. Gesundheitsminister Alain Berset wies jedoch darauf hin, dass der Bundesrat im Auftrag des Parlaments bereits vor einigen Jahren einen Bericht dazu verfasst hatte. Dabei sei herausgekommen, dass die meisten Daten weder vom Bund noch von den Krankenkassen erhoben würden. Ein neuer Bericht sei unnötig.
KRANKENKASSENMODELLE: Alternative Krankenversicherungsmodelle sind zwar günstiger, oft aber schwierig zu verstehen. Bei Verstössen gegen Vertragsbedingungen - beispielsweise die Pflicht zur vorgängigen telefonischen Konsultation - wird die Leistung in vielen Fällen verweigert. Nationalrätin Marina Carobbion (SP/TI) hält das für unverhältnismässig. Mit einer Motion forderte sie deshalb Anpassungen. Die Ratsmehrheit lehnte das jedoch ab. Auch der Bundesrat sprach sich gegen die Motion aus. Die Versicherten müssten ihre Rechte und Pflichten kennen und verstehen, argumentierte er.
ZUSAMMENARBEIT: Die nationalen Strukturen für die interinstitutionelle Zusammenarbeit werden nicht abgeschafft. Der Nationalrat hat eine Motion von Verena Herzog (SVP/TG) mit dieser Forderung abgelehnt. Gemäss einer Evaluation seien deren Aufgaben und Kompetenzen unklar, sagte sie. Der Zweck, die interinstitutionelle Zusammenarbeit zu koordinieren, werde nicht erfüllt, die Organe seien überflüssig. Bundesrat Alain Berset widersprach. Es brauche Verbesserungen, die Organisationen dürften aber nicht abgeschafft werden. In den nationalen Strukturen tauschen sich eidgenössische, kantonale und kommunale Akteure in den Bereichen Arbeitslosenversicherung, Invalidenversicherung, Sozialhilfe, Berufsbildung Migration aus.
DENKMALSCHUTZ: Der Nationalrat erachtet die Kriterien für die schützenswerten Ortsbilder der Schweiz als ungenügend. Er hat einer Motion von Fabio Regazzi (CVP/TI) mit 114 zu 77 Stimmen zugestimmt. Regazzi fordert einen verbindlichen Kriterienkatalog, in welchen Fällen ein Ortsbild von nationaler Bedeutung schützenswert ist. In städtischen Gebieten steige die Zahl der Konflikte, weil ganze Quartiere nicht mehr verändert werden dürften, erklärte Regazzi. Die Gegner argumentierten, die massgebenden Grundsätze und Verfahren für die Bezeichnung der Objekte seien klar und verbindlich. Der Bundesrat lehnte die Motion ebenfalls ab. Der Bund sei daran zu prüfen, ob es Handlungsbedarf gehe.
ALTERSVORSORGE: Der Nationalrat will keine Bildungsoffensive im Bereich der Altersvorsorge. Er hat eine Motion von Susanne Leutenegger Oberholzer (SP/BL) deutlich abgelehnt. Gemäss Umfragen bestünden in der Bevölkerung akute Wissenslücken, begründete Leutenegger Oberholzer ihren Vorstoss. Ein Drittel der Versicherten sei sehr schlecht informiert. Es müsse sie aber interessieren, denn es gehe um die Zukunft im Alter. Gesundheitsminister Alain Berset erklärte, die berufliche Vorsorge sei in der Tat komplex. Es bestünden aber heute bereits genügend Möglichkeiten für die Bevölkerung, sich über das Thema zu informieren.
GESUNDHEIT: Sozialversicherungen sollen die Kosten für "optimale" Prothesen für Menschen mit einer Behinderung übernehmen. Der Nationalrat hat zwei gleichlautende Motionen von Balthasar Glättli (Grüne/ZH) und Roger Golay (MCG/GE) mit 119 zu 57 Stimmen angenommen. Heute würden nur die Kosten von Hilfsmitteln übernommen, die einfach, zweckmässig und wirtschaftlich seien, kritisierte Glättli. Dies verschlechtere massiv die Lebensqualität. Für die Betroffenen sei der Unterschied wie Tag und Nacht. Für den Bundesrat käme die Umsetzung einem Paradigmenwechsel gleich. Nun muss noch der Ständerat entscheiden.
STRAFPROZESSE: Der Nationalrat will den Wechsel der amtlichen Verteidigung während Strafverfahren nicht beschränken. Er hat eine Motion von Andrea Geissbühler (SVP/BE) mit 111 zu 63 Stimmen abgelehnt. Das Geschäft ist damit vom Tisch. Die Motionärin kritisierte, dass heute viele beschuldigte Personen bis zu sechs Mal ihren Verteidiger auswechselten. Damit werde das Urteil zum Teil um Jahre hinausgeschoben. Die Folge: hohe Mehrkosten. Die Mehrheit der grossen Kammer folgte dem Bundesrat und lehnte den Vorstoss ab. Justizministerin Simonetta Sommaruga sagte, für einen Wechsel der Verteidigung müssten mehrere Voraussetzungen erfüllt sein. Zudem entscheide am Schluss die Verfahrensleitung. Wechsel aus verzögerungstaktischen Gründen seien deshalb nicht möglich.
MARKEN: Wer eine Marke registrieren will, muss sich gemäss geltender nationaler und internationaler Gesetzgebung selbst um den Schutz geistigen Eigentums kümmern. Das soll auch künftig so bleiben. Géraldine Marchand-Balet (CVP/VS) wollte dem Bundesrat ein zweiteiliges Verfahren zur Prüfung vorschlagen, dass günstiger und einfacher daherkommen sollte. Der Nationalrat lehnte ein entsprechendes Postulat aber mit 109 zu 67 Stimmen bei einer Enthaltung ab. Das Geschäft ist damit vom Tisch. Justizministerin Simonetta Sommaruga war der Auffassung, dass das vorgeschlagene Verfahren zu einer Erhöhung der Gebühren führen würde. Hinterleger einer Marke verfügten bereits heute über zahlreiche kostenlose Möglichkeiten, um zu prüfen, ob eine Marke bereits als solche gebraucht wird oder eingetragen wurde.
INTEGRATION: Der Nationalrat will kein zusätzliches Integrationsprogramm auf nationaler Ebene lancieren. Er lehnte ein Postulat von Claude Béglé (CVP/VD) mit 108 zu 64 Stimmen bei 5 Enthaltungen ab. Das Geschäft ist damit vom Tisch. Der Postulant wollte den Bundesrat beauftragen, die Einsetzung von "Integrationsbotschafterinnen" und "Integrationsbotschaftern" zu prüfen, wie es sie beispielsweise in Österreich gibt. Die Mehrheit der grossen Kammer folgte aber dem Bundesrat und sagte Nein zu einem zusätzlichen Integrationsprogramm. Laut Justizministerin Simonetta Sommaruga trägt der Bund dem Anliegen mit laufenden Massnahmen bereits genügend Rechnung.
ARBEIT: Der Nationalrat will die Rechte von Arbeitnehmenden bei Massenentlassungen nicht ausweiten. Er hat eine Motion aus den Reihen der SP mit 128 zu 51 Stimmen abgelehnt. Das Geschäft ist damit vom Tisch. Die Senkung des Schwellenwerts, ab dem ein Arbeitgeber verpflichtet ist, über einen Sozialplan zu verhandeln, war in der grossen Kammer nicht mehrheitsfähig. Der Bundesrat stellte fest, dass die Sozialpartnerschaft in der Schweiz in vielen Fällen funktioniere. Weitere Vorschläge zum Arbeitnehmerschutz hätten in der Vernehmlassung keine Mehrheit gefunden.
Der Ständerat in Kürze
Bern (sda)
GEWALT: Der Ständerat lehnt schärfere Strafen bei Gewalt und Drohungen gegen Polizisten, Behörden und Beamte vorerst ab. Er hat am Mittwoch eine Motion aus dem Nationalrat oppositionslos abgelehnt. Die Vorschläge gehen seiner Ansicht nach zu weit. Der Nationalrat forderte unbedingte Gefängnisstrafen. Das hätte gemäss den allgemeinen Regeln des Strafrechts dazu geführt, dass als Strafandrohung eine zweijährige Mindeststrafe vorgesehen werden müsste. Laut dem Ständerat würde das den Ermessensspielraum der Gerichte erheblich einschränken. Mit dem Nein ist das Geschäft vom Tisch, das Thema aber nicht erledigt. Der Ständerat wies auf die geplante Harmonisierung der Strafrahmen hin. Die Botschaft dazu liegt vor.
AUSSCHAFFUNGEN: Die neuen Regeln zur Ausschaffung krimineller Ausländer stossen auf Kritik. Die Härtefallklausel werde zu oft angewendet, heisst es. Der Ständerat will deshalb die Bestimmungen über die strafrechtliche Landesverweisung anpassen. Die kleine Kammer stimmte einer Motion von Ständerat Philipp Müller (FDP/AG) oppositionslos zu. Nach Ansicht des Ständerats sollen Anreize beseitigt werden, aus Gründen der Verfahrensökonomie die Härtefallklausel anzuwenden und auf eine Landesverweisung zu verzichten. Solche gibt es laut Motionär Müller heute. Damit sei die Gefahr verbunden, dass die Absicht des Gesetzgebers verwässert werde, bei bestimmten Taten nur in Ausnahmefällen auf eine Landesverweisung zu verzichten. Das Geschäft geht nun an den Nationalrat.
ERITREA: Die Asylsuchenden aus Eritrea beschäftigen das Parlament in fast jeder Session. Am Mittwoch diskutierte der Ständerat über das Thema. Oppositionslos nahm er eine Motion von Damian Müller (FDP/LU) an, im Einverständnis mit dem Bundesrat. Er fordert damit, was bereits geschieht: Der Bund soll den Status der vorläufig aufgenommenen Eritreer überprüfen und Bericht erstatten. Abgelehnt hat der Rat eine Motion von SVP-Nationalrätin Andrea Geissbühler (BE). Diese wollte den Bundesrat verpflichten, Verhandlungsgespräche mit dem eritreischen Regierungschef aufzunehmen. Ferner lehnte die kleine Kammer eine Petition ab, die sich gegen die Praxisverschärfung gegenüber Eritreerinnen und Eritreern richtet.
RÜCKÜBERNAHME: Der Ständerat will den Bundesrat nicht zum Abschluss von Rückübernahmeabkommen verpflichten. Er hat eine Motion aus dem Nationalrat oppositionslos abgelehnt. Dieser hatte den Bundesrat beauftragen wollen, Abkommen mit Algerien, Marokko, Tunesien und der Dominikanischen Republik abzuschliessen. Die Ständeratskommission befürwortet zwar solche Abkommen. Ohne Mitwirkung der Herkunftsstaaten könnten aber keine Verträge abgeschlossen werden, sagte Sprecherin Pascale Bruderer (SP/AG). Das betonte auch Justizministerin Simonetta Sommaruga. Sie wies zudem darauf hin, dass mit manchen Staaten ohne Abkommen eine gute Zusammenarbeit bestehe, während es mit anderen trotz Abkommen Probleme gebe.
INTEGRATION: Der Ständerat will die Integration von Jugendlichen und jungen Erwachsenen verbessern, die übers Ausländerrecht in die Schweiz einwandern. Diese soll sich in der Zielsetzung an der Integrationsagenda für Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene orientieren. Die kleine Kammer stimmte einer Motion ihrer Bildungskommission mit 34 Stimmen bei einer Gegenstimme zu. Eine Motion aus dem Nationalrat, zugewanderte Jugendliche zum Abschluss auf der Sekundarstufe II zu führen, lehnte der Ständerat stillschweigend ab, da diese nach Ansicht der Mehrheit mit der Verabschiedung der Integrationsagenda weitgehend erfüllt ist.
FÖDERALISMUS: Der Ständerat will den Föderalismus fördern. Er hat sich dafür ausgesprochen, dass der Bund das Institut für Föderalismus in Freiburg finanziert oder zumindest mitfinanziert. Mit 24 zu 11 Stimmen bei einer Enthaltung nahm der Rat eine Motion des Freiburger CVP-Vertreters Beat Vonlanthen an. Der Bundesrat soll demnach eine Rahmenfinanzierung für das Institut vorsehen. Im Rat stiess das Anliegen auf offene Ohren. Auch Bundesrätin Simonetta Sommaruga bezeichnete sich als "Fan des Föderalismus". Der Bundesrat hatte dennoch die Ablehnung der Motion beantragt. Er möchte das zuerst mit den Kantonen besprechen, sagte Sommaruga - eben im Sinne des Föderalismus. Der Vorstoss geht nun an den Nationalrat.
WAFFENRECHT: Nach zwei Runden sind die Differenzen bei den Änderungen des Waffenrechts ausgeräumt. Der Ständerat kam in zwei Detailpunkten dem Nationalrat entgegen. Damit ist die Vorlage bereit für die Schlussabstimmung. Das Referendum ist bereits in der Pipeline. Die Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (Auns) und die Organisation Pro Tell drohen seit Wochen damit. Der Dachverband der Schützen wird am 25. September - drei Tage vor der Schlussabstimmung im Parlament - entscheiden, ob er mitmacht. Wird ein Referendum ergriffen, wird sich die SVP aller Voraussicht nach daran beteiligen. Justizministerin Simonetta Sommaruga ihrerseits machte in den Diskussionen im Parlament klar, dass eine weniger weitgehende Verschärfung des Waffenrechts "nicht EU-konform" sei.
STRAFVOLLZUG: Der Bundesrat muss eine Reform der "lebenslangen" Freiheitsstrafe für besonders schwere Straftaten prüfen. Der Ständerat hat ein entsprechendes Postulat von Andrea Caroni (FDP/AR) oppositionslos überwiesen. Auch die Regierung zeigte sich mit dem Vorstoss einverstanden. Heute werden Verurteilte nach 10 beziehungsweise 15 Jahre bedingt aus dem Gefängnis entlassen, wenn sie sich im Vollzug wohl verhalten haben und nicht rückfallgefährdet sind. Dies schafft laut dem Ständerat Probleme. Der Bundesrat soll deshalb in einem Bericht darlegen, wie dieses System verbessert werden könnte, namentlich um besonders schweres Verschulden mit der adäquaten Strafe sanktionieren zu können, ohne dies mit Sicherungsmassnahmen zu vermischen.
HAFT: Der Ständerat hat eine vom Nationalrat angenommene Motion von Verena Herzog (SVP/TG) mit 29 zu 1 Stimmen abgelehnt, die eine Ordnungshaft für unbelehrbare Stalker fordert. Herzog ging es um jene Fälle, in welchen zum Beispiel Kontakt- oder Rayonverbote nicht eingehalten werden. Der Bundesrat hatte sich bereit erklärt, den Auftrag anzunehmen. Inzwischen wurde das Anliegen, den Opferschutz im Bereich der häuslichen Gewalt und des Stalkings zu verstärken, im Rahmen des Bundesgesetzes über die Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen aufgenommen. Die Vorlage befindet sich kurz vor der Verabschiedung durch das Parlament. Der Ständerat ist der Ansicht, dass diese Neuerungen nun zunächst in Kraft gesetzt werden sollten, bevor über weitere Massnahmen diskutiert wird.
BAUHANDWERK: Das Parlament will das Recht von Grundeigentümern stärken, eine Ersatzsicherheit zu stellen. Er hat oppositionslos eine Motion von Nationalrat Thierry Burkart (FDP/AG) angenommen, die ein praxistaugliches Bauhandwerker-Pfandrecht fordert. Der Bundesrat soll im Rahmen der laufenden Arbeiten zur Revision des Bauvertragsrechts die Bestimmungen dazu konkretisieren. Dabei soll der Schutz der Handwerker und Unternehmer nicht geschwächt werden. Der Bundesrat zeigte sich einverstanden mit dem Auftrag.
PERSONENVERKEHR: Der Bundesrat wird prüfen, ob die Verordnung zum freien Personenverkehr angepasst werden soll. Der Ständerat hat oppositionslos ein Postulat von Fabio Abate (FDP/TI) angenommen. Dabei geht es um eine mögliche Harmonisierung der Sanktionsverfahren bei einer Verletzung der Meldepflicht. Heute werden ausländische und inländische Arbeitgeber auf der einen Seite und selbständige Dienstleistungserbringer auf der anderen Seite unterschiedlich behandelt. Erstere mit verwaltungsrechtlichen Verfahren und Sanktionen, letztere mit strafrechtlichen. Der Bundesrat erachtet eine Harmonisierung grundsätzlich als sinnvoll, will jedoch die Frage zuerst mit den zuständigen Stellen und kantonalen Behörden prüfen.