23 Jahre alt war Alfred-Guillaume Carnet als ihn das Terriorialgericht 1 wegen Verletzung militärischer Geheimnisse und wegen unerlaubten Grenzübertritts am 17. Dezember 1944 zum Tod verurteilte. Warum wurde er der einzige von 16 angeklagten Landesverrätern, den die Vereinigten Bundesversammlung vor der Todesstrafe bewahrte? Das erfahren Sie in den folgenden Zeilen.

Carnet wurde Spionagetätigkeit als Doppelagent und Denunziation von Kameraden vorgeworfen: Er hatte sich 1941, als kaum Zwanzigjähriger, Grenzgänger zwischen der Schweiz und Frankreich, vom Schweizer Geheimdienst anwerben lassen. Er fasste den Auftrag, «über die deutschen Truppen und deren Bewegungen, die Nummern der betreffenden Einheiten in der Gegend der Schweizer Grenze Bericht zu erstatten.» So weit, so heimatverbunden. Aber im Frühjahr 1942 lernte Carnet den deutschen Polizeiagenten Hendricks kennen – und von da an arbeitete er auch für die deutsche Wehrmacht.

Die Auskünfte, die er dem schweizerischen Nachrichtendienst gab, waren von Hendricks erfunden. Er gab auch Namen von schweizerischen Nachrichtenoffizieren an den Deutschen weiter, und er denunzierte seine Jugendfreunde Robert Tschanz und Georges Léon Beurret, die ebenfalls als Grenzgänger für den Schweizer Nachrichtendienst in Frankreich Informationen gesammelt hatten. Diese wurden verhaftet, im März 1943 von einem deutschen Kriegsgericht zum Tod verurteilt und hingerichtet. Carnet machte dennoch mit seiner Spionagetätigkeit vorgeblich für die Schweiz, in Wahrheit aber für die Deutschen weiter, bis er 1944 verhaftet wurde.

Carnets Verteidiger, Hauptmann Pelet, kritisierte in einer Eingabe vom 20. Dezember 1944 an die Bundesversammlung das durchgeführte Untersuchungsverfahren als «fragmentarisch und unvollständig». Einzelne Geständnisse des Verurteilten, die dieser im Nachhinein auch wieder zurückgezogen hatte, seien «absolut unwahrscheinlich»; es sei nicht erwiesen, dass er seine Freunde verraten habe. Das Wort «Justizirrtum» fiel. Pelet führte in seiner Eingabe auch das jugendliche Alter seines Mandanten an. Er sei noch nicht einmal zwanzig gewesen, als er sich dem Nachrichtendienst zur Verfügung stellte. Pelet schrieb von «Unvorsichtigkeit und Unüberlegtheit». Ein weiteres Argument war, dass Carnet kein Schweizer war, er hatte also nicht sein eigenes Land verraten. Seine Mutter war Deutsche. Freddy war ein uneheliches Kind, herumgeschoben, eine Zeitlang in einer «Anstalt für verlassene Kinder».

Als er achtjährig war, heiratete die Mutter einen Franzosen, der Freddy adoptierte. Die Ehe der Eltern war nicht glücklich. Der Junge wurde von der Mutter ab und zu «verhätschelt», dann wieder «brutaler Behandlung» ausgesetzt. 1941 schloss er sich seinen Freunden Robert Tschanz und Georges Léon Beurret an, die beide im Schwarzhandel mit Uhren tätig, in dieser Eigenschaft Grenzgänger waren und auf diesem Weg vom Nachrichtendienst angeworben wurden.

Einen Monat nach dem Verteidiger, am 26. Januar 1945, äusserte sich Oberstbrigadier Jakob Eugster, der Armeeauditor, zu dem Fall. Er insistierte auf Carnets Denunziation seiner Kameraden. Zur Untermauerung seiner Überzeugung führte er den «erschütternden Abschiedsbrief» von Robert Tschanz an, der geschrieben hatte: «Ich werde mutig mit meinen Unglückskameraden sterben. Hier mein letzter Kuss.» Und «Für Freddy, der mich ausgeliefert hat.» Hier habe man es mit einem Zeugen zu tun, so Eugster, dem geglaubt werden müsse. Wenn er im Prozess Carnet als Denunzianten bezeichnet habe, «so lügt er sicher nicht».

Am 7. Februar trat die Begnadigungskommission zusammen. Von dieser Sitzung existiert kein Protokoll. Der Bericht des französischsprachigen Berichterstatters Paul Chaudet liest sich teilweise wie eine wörtliche Übersetzung der Ausführungen des Armeeauditors Jakob Eugster von Ende Januar. Der Antrag der Begnadigungskommission an die Vereinigte Bundesversammlung lautete: «Die Kommission beantragt mit 8 gegen 4 Stimmen und 1 Enthaltung, das Begnadigungsgesuch des Alfred-Guillaume Carnet abzuweisen.»

Am 2. März 1945 gab der Bundesrat eine Stellungnahme ab. Er betonte – im Gegensatz zu Verteidiger Pelet –, dass die Voruntersuchung gründlich und umfassend durchgeführt worden sei. Der Bundesrat schloss sich dem Urteil des Gerichtes und den Ausführungen des Armeeauditors Eugster an und beurteilte das Delikt als schwer: «Als schwerstes und verwerflichstes Delikt des Carnet bewertet das Departement die Preisgabe der Organisation und des persönlichen Aufbaues unseres Nachrichtendienstes an den deutschen Nachrichtendienst.» Er habe sich «so schwer gegen unser Land vergangen, dass nur der Vollzug der ausgefällten Todesstrafe die richtige Sühne sein kann.»

Die Sondersession der Vereinigten Bundesversammlung fand am 22. März 1945 statt. Die Berichterstatter Ernst Schmid-Dieterswil und Chaudet vertraten die Mehrheit der Kommission, die Angehörigen der vierköpfigen Minderheit, die Herren Samuel Brawand, Francesco-Nino Borella und Johannes Huber, beantragten Annahme des Begnadigungsgesuchs und die Umwandlung der Todesstrafe in lebenslängliches Zuchthaus. Sie argumentierten mit dem jugendlichen Alter des Verurteilten, mit seiner unglücklichen Kindheit und mit dem Umstand, dass Carnet Ausländer war und somit nicht sein eigenes Land verraten hatte. Das Geständnis, seine Freunde denunziert zu haben, habe er zurückgezogen, sodass dieser Tatbestand nicht zweifellos erwiesen sei. Ein Justizirrtum müsse unbedingt vermieden werden.

Die Vereinigte Bundesversammlung behandelte zwischen November 1942 und März 1945 sechzehn Begnadigungsgesuche von zum Tod verurteilten Landesverrätern. Fünfzehn davon lehnte sie ab. Das letzte Gesuch war das einzige, dem stattgegeben wurde. Mit 126 zu 80 Stimmen begnadigte die Bundesversammlung Alfred-Guillaume Carnet.