9 Als die «Blauen» noch…

Die Ratsprotokolle erschienen auf verschiedenfarbigem Papier

… gefragt waren. Eine Alltagsszene während den Sessionen: Immer am Nachmittag standen die Medienleute ungeduldig vor dem Pult von Charles Offner, dem Pöstler und Betreuer der Bundeshausjournalistinnen und -journalisten. Worauf sie so sehnlichst warteten? Auf die «Blauen», will heissen die auf blauem Kohlenpapier vervielfältigten Ratsprotokolle des Amtlichen Bulletins.

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8 Die «wilden Jahre» der Protokollführung

Eine Kommissionssitzung, Mitte der 1980er Jahre: Auf dem Tisch am Platz des Protokollführers (links auf dem Bild) ein Spulentonbandgerät.
Foto Fernand Rausser, aus: Die Schweizerische Bundesversammlung 1984, S. 15, © Generalsekretariat der Bundesversammlung, Bern

​Seit Ende der 1960er Jahre wurden die Kommissionsverhandlungen auf Tonband aufgenommen. Aber auf das Tonbandgerät war kein Verlass, die Aufnahmequalität miserabel, ein Versagen des altersschwachen Apparates nicht ausgeschlossen. Nach der Sitzung tippte der Protokollführer auf seiner mechanischen Schreibmaschine eine Rohfassung, die er von Hand korrigierte. Dieser Entwurf wurde anschliessend im Sekretariat ins Reine geschrieben, auf Matrizen, die für die spätere Vervielfältigung benötigt wurden. Auf diese Weise wurde in den Kommissionen von National- und Ständerat noch zu Beginn der 1980er Jahre protokolliert.

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7 Von der Stenographie zur Textverarbeitung. Erinnerungen von Ernst Frischknecht, Leiter des Protokollierungsdienst der Bundesversammlung von 1977-1988

Ernst Frischknecht, 1985 am damaligen Redaktorenpult im Nationalratssaal. Im Vordergrund Bundesrat Kurt Furgler.
Foto Walter Rutishauser, © Archiv Walter Rutishauser, Bibliothek am Guisanplatz, Bern

1976: Gleich mit dem Beginn der Session waren die Stenographinnen und Stenographen sofort durch ihre Arbeit absorbiert, die den Einsatz aller Kräfte verlangte: Zehn Minuten lang im Ratssaal eine manchmal schwerverständliche, mit vielen Namen und Fachausdrücken gespickte Rede mitverfolgen, sie auf ihrem Stenoblock aufnehmen, dann mit diesem die Treppe hinaufrennen, sich durch die Besuchermassen auf den Korridoren drängen und schliesslich das Stenogramm in höchstens fünfzehn Minuten druckreif diktieren – das war eine phänomenale Leistung!

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6 Markttreiben statt Ratsbetrieb

Eine Debatte während der Herbstsession 1934: Der Redner steht an seinem Platz in der Bildmitte. Die Stenographen haben ihren Tisch rechts unten verlassen und sich links neben den Redner gesetzt.
Foto Paul Senn (1901-1953), Bernische Stiftung für Fotografie, Film und Video, Kunstmuseum Bern, Depositum Gottfried-Keller-Stiftung. © Gottfried-Keller-Stiftung, Bern

Von 1848 bis 1939 sprachen die Nationalräte stehend von ihrem Platz aus. Um einen Redner zu verstehen, musste man sich in seine Nähe begeben, was im Saal ein ständiges Hin und Her bewirkte. 1926 wurde die Einrichtung einer Rednertribüne erstmals diskutiert. Der Rat war gespalten.

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5 Ein Nazi im Bundeshaus

Kittelmann als ganzseitige Karikatur im «Nebelspalter» von 1936. Auf der von ihm beschriebenen Banderole steht in Stolze-Schrey-Stenographie: «Zwei Seelen wohnen auch in meiner Brust.»
Aus: Nebelspalter, Nr. 6/1936, Umschlag (Abdruck mit Genehmigung des Nebelspalter-Verlages, Horn)

Zwei Seelen schlugen in der Brust des Bundesstenographen Dr. Hellmuth Kittelmann: Er war zum einen ganz von seinem Beruf als Stenograph erfüllt, zum andern war er auch seinem Herkunftsland Deutschland eng verbunden und NSDAP-Mitglied. Seine NSDAP-Mitgliedschaft war Thema auf Regierungsebene, veranlasste den deutschen Botschafter zum Eingreifen, wurde im Nationalrat thematisiert und in der Presse debattiert.

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4 «Schriftgenossen» für die Eidgenossenschaft

Das frühe Stenographische Büro der Bundesversammlung.
Aus: Reber-Alge 1909, S. 103

​Die ersten Stenographen der eidgenössischen Räte arbeiteten nicht nur für die Eidgenossenschaft, sondern oft auch für Gemeinde- und Kantonsparlamente. Als Teil einer international vernetzten Stenographenzunft fochten sie unermüdlich für die Verbreitung der Stenographie – und dabei vor allem für «ihre» Schule. Die sonst so stillen Schaffer im Parlamentsbetrieb erwiesen sich als erstaunlich streitlustig, wenn es darum ging, sich gegen rivalisierende Schulen zu behaupten.

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3 Eine Zangengeburt

Die 111 Nationalräte nach ihrer Wahl in die erste Bundesversammlung 1848. Sie hielten ein amtliches Protokoll ihrer Debatten mehrheitlich nicht für notwendig.
https://www.ch.ch/de/wahlen2015/zum-50-mal/wie-liefen-die-ersten-parlamentswahlen-1848-ab

Mitte der 1880er Jahre nahmen die Einnahmen wie auch die Ausgaben des Bundes stark zu. Das wirkte sich auch auf die Ratsgeschäfte aus, die immer zahlreicher und komplexer wurden. Damit wuchs auch das Bedürfnis der Parlamentarier nach einem umfassenden Protokoll, das ihnen ermöglichen sollte, sich rasch über die Verhandlungen im jeweils anderen Rat zu informieren. Dieses Argument erhielt nach Einführung des fakultativen Referendums 1874 noch mehr Gewicht und wurde fortan immer wieder angeführt. 1891 wurde dann die Volksinitiative eingeführt. Es wirkte immer anachronistischer, dass der Bürger einerseits immer mehr Möglichkeiten der direkten politischen Einflussnahme erhielt, andererseits aber nicht erfahren konnte, was im Parlament genau diskutiert wurde.

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2 Als die Presse die Rolle des Amtlichen Bulletins hatte

Eine Sitzung des Nationalrates im alten «Bundes-Rathhaus» (heute Bundeshaus West) im Jahr 1859
Historisches Museum Bern (Archiv DAB)

​Bis 1891 war die Presse der einzige Weg für die Öffentlichkeit, sich über die Ratsdebatten in Kenntnis zu setzen. Bedeutende Zeitungen wie die «Neue Zürcher Zeitung», der «Bund», oder das «Journal de Genève» pflegten ausführlich zu informieren. Ihre Korrespondenten vor Ort fassten die einzelnen Redebeiträge zusammen, gaben die diskutierten Gesetzesartikel und Anträge im Wortlaut wieder und berichteten über den Ausgang der Abstimmungen. Die Berichterstattung in der Presse war stark politisch bestimmt.

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1 Das Bulletin ist blind wie Justitia

Bundesrat Adolf Deucher (1831-1912)
© Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich (Sozarch_F_Ka-0002-050)

In den Anfängen unseres Bundesstaates stellte es immer wieder Probleme, dass keine verlässlichen und umfassenden Wortprotokolle geführt wurden. So kam es vor, dass ein Votum später nicht mehr auffindbar war. Von so einem misslichen Fall war einst auch Bundesrat Adolf Deucher betroffen, wie das Journal de Genève am 15. August 1888 berichtete: Der Vorsteher des Eidgenössischen Handels-, Industrie- und Landwirtschaftsdepartementes habe selbst erfahren, wie nachteilig es sei, dass es über die Verhandlungen der Bundesversammlung keine umfassenden stenographischen Aufzeichnungen gebe. Als er nämlich über eine besondere Frage zur Fabrikantenhaftung zu befinden hatte, erinnerte er sich, dass dieses Thema vor einigen Jahren in den Räten behandelt worden war. Deshalb liess er sich die Protokolle der beiden Räte vorlegen, aber er fand darin kein Wort zu diesem Thema. Daraufhin wurden sämtliche Zeitungen durchforstet – vergeblich. Und doch war Deucher sicher, dass über diese Frage diskutiert worden war, aber niemand erinnerte sich, was gesagt worden war.

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Aus: Festschrift «125 Jahre Amtliches Bulletin der Bundesversammlung»
François Comment (Ed.), 125 Jahre Amtliches Bulletin der Bundesversammlung / Les 125 ans du Bulletin officiel de l’Assemblée fédérale / I 125 anni del Bollettino ufficiale dell’Assemblea federale. Mit 22 Beiträgen in allen vier Landessprachen. – Bern 2016. – 404 Seiten, 370 Abbildungen, 246 mm x 280 mm, Preis Fr. 29.–.